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 Bündnisfreiheit statt NeutralitätDer Berner Historiker Peter Hug setzt sich mit dem seiner Meinung nach völlig überholten Haager Neutralitätsrecht auseinander, beleuchtet die aktuelle Handhabung der schweizerischen Neutralitätspolitik und fordert verschiedene Kursänderungen, von denen manche sehr begrüssenswert wären andere eventuell weniger: ein Diskussionsbeitrag.
Von Peter Hug hug.bern@hispeed.ch
Die Aussen- und Sicherheitspolitik der Schweiz müssen neu gedacht werden. Das deutete der Bundesrat implizit bereits drei Wochen vor dem erneuten russischen Überfall auf die Ukraine an, indem er in seinem aussenpolitischen Bericht vom 2. Februar 2022 einleitend auf eine grundsätzliche «Zeitenwende» hinwies. Unmittelbar nach dem russischen Grossangriff stellte auch der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz den Begriff der Zeitenwende ins Zentrum einer Regierungserklärung. In beiden Fällen verwies der Begriff der Zeitenwende auf das Scheitern des lange dominanten Konzepts «Wandel durch Annäherung»: beim Bundesrat in Bezug auf China, bei Olaf Scholz auf Russland.
Tatsächlich lag das Konzept Wandel durch Annäherung der Bereitschaft des Westens zugrunde, China trotz massiver rechtsstaatlicher und marktwirtschaftlicher Defizite 2001 in die WTO aufzunehmen und zehn Jahre später ebenso Russland. Der Wirtschaftsverband Economiesuisse jubelte, dieser Entscheid sei «auch ein Erfolg für die Schweiz, die im Beitrittsprozess eine wesentliche Rolle als Vermittlerin wahrgenommen hat». Ungeachtet der russischen Kriegsverbrechen in Tschetschenien, der gewaltsamen Abtrennung der Regionen Südossetien und Abchasien von Georgien und anhaltenden weiteren imperialen Ansprüchen Russlands habe die Blockade «dank eines Kompromissvorschlags und der aktiven Vermittlung durch die Schweiz» überwunden werden können.
Schweizer Appeasement-Politik
Mit dem im Alleingang vereinbarten Freihandelsabkommen von 2013 mit China und 2014 mit der Weigerung, nach der Krim-Annexion und dem Einmarsch in den Donbas die EU-Sanktionen gegen Russland zu übernehmen, akzentuierte die Schweiz ihre Appeasement-Politik. Sie sah systematisch über schwerste Brüche des Völkerrechts hinweg und schürte die illusionäre Hoffnung, mit fortlaufendem Nachgeben (fehlende Sanktionen bei Verstössen gegen das Minsk-Abkommen), Zugeständnissen (schrankenlose Umwerbung von russischen Banken, Oligarchen, Rohstoffhändlern, Gasprom und Nord Stream 2 mit Sitz in Zug) und Beschwichtigung (Fehlleistungen der Bundesanwaltschaft) beim Aggressor eine Verhaltensänderung zu erreichen. Damit, so lautete das Argument, wolle man sich für eine Vermittlerrolle bereithalten und die Guten Dienste nicht gefährden – auch das eine krasse Fehleinschätzung, denn die Nachfrage blieb aus.
Mit der «Zeitenwende» kam dieses eng mit dem Selbstbild der Neutralität verknüpfte, de facto aber ohnehin seit Langem obsolete Konzept, sich durch Wegschauen bei schwersten Völkerrechtsverletzungen für Friedensstiftung zu empfehlen, unter Druck. Angesichts der anhaltenden russischen Aggression war es immer schwieriger geworden zu argumentieren, die Appeasement-Politik der «neutralen» Schweiz fördere den Frieden. Auch die internationale Anerkennung der Neutralität ist zutiefst erschüttert.
Die Neutralität ist international immer weniger gefragt
Ohne internationale Anerkennung tendieren die Erfolgsaussichten der «Neutralität » aber gegen null. So betont der Bundesrat in seiner aussenpolitischen Strategie 2024–2027: «Die Neutralität der Schweiz kann dann Wirkung erzielen, wenn sie international verstanden und anerkannt sowie als nützlich betrachtet wird. Letzteres ist heute bei manchen europäischen Staaten, die ursprünglich den zentralen Referenzpunkt der Neutralität darstellten, kaum mehr der Fall.»1 Das ist eine vernichtende Feststellung, wenn man bedenkt, dass laut ETH-Umfrage auch 94 Prozent der Schweizer Bevölkerung die internationale Anerkennung für die Erfolgsaussichten der Neutralität als «entscheidend» betrachten.
«Die Schweiz ist in der schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Schweiz kann sich nicht als neutral bezeichnen und zulassen, dass eine oder beide Seiten ihre Gesetze zum eigenen Vorteil ausnutzen. «Das geschieht jedoch », hielt auch der US-Botschafter in der Schweiz, Scott Miller, in einem NZZ-Interview fest. Und die Botschafter der sieben mächtigsten Wirtschaftsnationen G7 drängten die Schweiz in einem Brief zur Teilnahme an der Repo-Task-Force «Russische Eliten, Bevollmächtigte und Oligarchen» zur Umsetzung der Finanzsanktionen gegen Putins Netzwerk. Für die schroffe Absage schickte der Bundesrat subalterne Beamte vor. Sogar die Geschäftsprüfungskommission des Ständerates hielt in ihrem Kontrollbericht über die Beteiligung des Bundes an Wirtschaftssanktionen vom 14. November 2023 fest, dass es der Schweiz bei deren Begleitung und Überwachung an Ernsthaftigkeit fehlt.
Abnehmendes Verständnis für schweizerische Sonderrolle
All dies erweckt den Eindruck einer gewissen Ratlosigkeit über die Rolle der Schweiz in Europa und der Welt gerade mit Blick auf ihre Sicherheitspolitik. Zentrale Probleme könnten gelöst wer-den, wenn in einem ersten Schritt auf das völlig veraltete Haager Neutralitätsrecht von 1907 verzichtet wird. Wenn die Schweiz gegenüber ihren besten Freunden und Partnern Überflugsrechte oder die Weitergabe von Kriegsmaterial verweigert, das sie vor zehn oder zwanzig Jahren exportiert hat, und keine politische Kooperation eingeht, um die Sanktionen gegen Russland tatsächlich durchzusetzen, so fällt das Verständnis für die Sonderrolle der Schweiz dahin.
Auch der Bundesrat weist darauf hin, dass selbst im breit gespannten Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) «weniger die Neutralität als vielmehr die Konvergenz von Interessen respektive Werten das zentrale Kriterium für gemeinsames Handeln» darstellt.2 Die «Konvergenz von Interessen respektive Werten» als Grundlage und Voraussetzung für gemeinsames aussen- und sicherheitspolitisches Handeln liegt ohne Zweifel im Interesse der Schweiz. Das bedeutet aber den Bruch mit einer lange geübten, angeblich unparteiischen, auf Äquidistanz und Enthaltsamkeit ausgerichteten Neutralitätspolitik.
Anachronistisches Haager Neutralitätsrecht
Das Haager Neutralitätsrecht widerspricht heute namentlich in zwei Punkten den sicherheitspolitischen Interessen der Schweiz. Erstens erlaubt es Privaten schrankenlose Geschäfte mit allen Kriegführenden. «Eine neutrale Macht ist nicht verpflichtet, die für Rechnung des einen oder des anderen Kriegführenden erfolgende Ausfuhr oder Durchfuhr von Waffen, Munition und überhaupt von allem, was für ein Heer oder eine Flotte nützlich sein kann, zu verhindern», hält Artikel 7 des Abkommens über die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Landkrieg fest.
Privaten ist alles erlaubt, selbst wenn sie einen Angriffs-, Vernichtungs- oder Kolonialkrieg unterstützen oder die belieferte Krieg führende Partei humanitäre Regeln zur Einhegung des Krieges systematisch verletzt. Bedingung für diesen Freipass des äusserst liberalen Haager Rechts besteht allein darin, dass der Staat tatsächlich konsequent wegschaut und in keiner Form in die Handlungen der privaten «Personen» eingreift. Entsprechend muss der neutrale Staat laut Artikel 8 auch nicht eingreifen, wenn Kriegführende seine Kommunikationsinfrastruktur für Spionage, Desinformation oder Hassreden nutzen.
Bedenkliche neutrale Gleichbehandlungspflicht
Diese Bestimmungen entsprachen zwar der Handhabung der Neutralität durch die eidgenössischen Orte seit dem 17. Jahrhundert und dem Verhalten der Schweiz im Ersten und im Zweiten Weltkrieg; die geübte, meist einseitige schrankenlose Belieferung von Kriegführenden ist mit einer auf die «Konvergenz von Interessen respektive Werten» ausgerichteten kooperativen Aussen- und Sicherheitspolitik aber völlig unvereinbar.
Dies gilt in erhöhtem Masse in Bezug auf die zweite zentrale Bestimmung des Haager Neutralitätsrechts. Greift der neutrale Staat nämlich dennoch in das unabhängig von ihm imaginierte «private» Handeln ein, so unterliegt er einer Gleichbehandlungspflicht. «Alle Beschränkungen oder Verbote, die von einer neutralen Macht in Ansehung der in den Artikeln 7 und 8 erwähnten Gegenstände angeordnet werden, sind von ihr auf die Kriegführenden gleichmässig anzuwenden», heisst es in Artikel 9.
Der Bundesrat hat diese Gleichbehandlungspflicht historisch gesehen vielfach ignoriert, sie aber ausgerechnet in seiner Ukraine-Verordnung neu entdeckt. Entsprechend verhängte er die Sanktionen im Bereich von Rüstungsgütern, besonderen militärischen Gütern und doppelt verwendbarer Hochtechnologie sowohl gegen Russland wie auch gegen die Ukraine. Eine Frage aus dem Nationalrat, welche aussenpolitischen Ziele der Bundesrat verfolge, wenn er nicht allein gegen den Aggressor, sondern auch gegen das überfallene Opfer Sanktionen verhänge, führte zu keiner nachvollziehbaren Antwort.
Bündnisfreiheit statt Neutralität
Um sich aus diesen Widersprüchen zu befreien, braucht es weder einen Nato-Beitritt noch eine Kündigung der Haager Neutralitätsabkommen, denen bis heute über 30 Staaten von Deutschland über Frankreich bis USA, Russland, China und die Ukraine beigetreten sind. Denn das Haager Neutralitätsrecht ist ein Ad-hoc-Recht, das fallweise angerufen werden kann, was allerdings kaum mehr vorkommt. Laut Haager Recht steht allen frei, je nach Kontext das aussen- und sicherheitspolitisch Richtige zu tun. Es zwingt niemand, zuerst die «Vereinbarkeit» mit Neutralität zu prüfen.
Verzichtet die Schweiz darauf, im Einzelfall die «Vereinbarkeit» mit der Neutralität zu überprüfen, so folgt daraus kein Zwang, der Nato beizutreten. Der Gegenbegriff zur Neutralität ist nicht der Nato-Beitritt. Vielmehr steht es der Schweiz frei, auch ohne «immerwährende» Beachtung des veralteten und diffusen Neutralitätsrechts bündnisfrei zu bleiben. Für einen Nato-Beitritt fehlt aufgrund der privilegierten geografischen Lage der Schweiz die strategische Notwendigkeit. Niemand in der Nato erwartet von ihr, mittels eines Beitritts zu einem verstärkten Flankenschutz beizutragen, wie dies bei Schweden und Finnland der Fall ist, noch braucht die Schweiz wie die Ukraine eine Sicherheitsgarantie, die durch eine Beistandspflicht befestigt wird.
Flexiblere Bündnisfreiheit
In Bereichen wie Cyber-Sicherheit, Desinformation oder Luftraumschutz, in denen die Geografie keinen Schutz bietet, macht die Bündnisfreiheit aber den Weg frei für eine projektbezogene Zusammenarbeit mit der Nato und der EU, also überall dort, wo Sicherheit allein in einem gesamteuropäischen Zusammenhang geschaffen werden kann. Dem bündnisfreien Staat steht es auch frei, weltweit militärische Solidaritätsleistungen zu erbringen, falls dies in seinem sicherheitspolitischen Interesse steht.
So kann er mit geeigneten, das heisst zertifizierten Truppen zu UNO-Zwangsmassnahmen oder den Nato Response Forces (NRF) beitragen, wie das Schweden und Finnland schon vor Jahren in Afghanistan und Libyen gemacht haben. Dies brachte zwar rückblickend gesehen keinen Sicherheitsgewinn. Dieser war aber umso grösser im Rahmen der nordischen Zusammenarbeit, die gängigen Neutralitätsvorstellungen ebenfalls widersprach.
Kein Frieden durch Interdependenz
Hinzu kommt, dass inzwischen alle Funktionen hinfällig sind, welche die Schweiz traditionell mit der Neutralität in Verbindung brachte. Das Hauptziel des Neutralitätsrechts, den Anspruch des Neutralen auf den ungehinderten Zugang zu weltweit offenen, möglichst wenig regulierten Märkten zu schützen, erwies sich bereits im Ersten Weltkrieg als Illusion. Im Um-feld einer totalen Kriegführung schützt die Neutralität nicht vor Blockaden und Handelskontrollen. Und seit der Zeitenwende gewähren auch die besten Freunde und Partner der Schweiz kaum mehr Raum, sich Sanktionen zu entziehen und am Anspruch auf universellen Freihandel festzuhalten.
Anstelle der Maximierung wechselseitiger Abhängigkeiten («Frieden durch Interdependenz») tritt vielmehr die Diskussion, ob ein «De-Risking» ausreiche oder gar ein «De-Coupling» angesagt sei, um die Versorgungssicherheit zu stärken, sich weniger erpressbar zu machen und nicht zur Aufrüstung der Falschen beizutragen. Zwar gibt es weiterhin gute Gründe, Konfrontation und Abschreckung nicht als alleinige Garanten von Frieden und Sicherheit zu betrachten und Sicherheitsbedrohungen nicht durch Blockbildung, sondern auch mit Kooperation anzugehen. Die Hauptfunktion des Neutralitätsrechts, die Freiheit des Handels zu schützen, ist spätestens mit der Zeitenwende aber hinfällig geworden.
Abseitsstehen wird zum Risiko
Auch andere der Neutralität historisch zugeschriebene Funktionen sind bedeutungslos geworden. Der Zusammenhalt der Schweiz ist auch ohne die innere Friedensfunktion der Neutralität nicht gefährdet. Die Zeiten konfessioneller Konflikte und auseinanderstrebender Landesteile sind längst vorbei. Ebenso hinfällig ist ihre geopolitische Stabilisierungsfunktion; die frühere Rolle der Schweiz als anerkanntes und erwünschtes Puffergebiet zwischen allfälligen Konfliktparteien ist angesichts der weit fortgeschrittenen europäischen Integration obsolet.
Auch Sicherheit durch Abseitsstehen war nur so lange ein taugliches Konzept, als ein isolierter Angriff drohen konnte. Im zusammenwachsenden Europa wird Abseitsstehen zum Sicherheitsrisiko. Denn die Sicherheit der Schweiz ist mehr denn je von jener ihrer besten Freunde und Partner in Europa abhängig. Hauptargument für die Neutralität ist inzwischen ihre Dienstleistungsfunktion. Auch diesbezüglich sieht die Wirklichkeit anders aus. Längst haben die UNO und andere Staaten von Norwegen über Kanada bis Katar der Schweiz als Friedensvermittlerin den Rang abgelaufen. Das überhöhte Selbstbild der Schweiz als Friedensstifterin hat seit jeher eher kompensatorischen Charakter als etwas mit der Realität zu tun.
Autonome Landesverteidigung wird immer mehr zur Illusion
Dass Abseitsstehen zum Sicherheitsrisiko wird, hat inzwischen auch der Bundesrat erkannt. Dennoch hält er an der Neutralität, dem Hauptgrund für dieses Abseitsstehen ebenso wie am eng damit verknüpften Konzept der «autonomen» Landesverteidigung fest – obschon offensichtlich ist, dass es dafür weder Szenarien noch die Fähigkeiten gibt. Im Armeebericht 2024 wiederholt der Bundesrat seine Einschätzung aus dem Sicherheitspolitischen Zusatzbericht 2022, dass «ein direkter bewaffneter Angriff auf die Schweiz als unwahrscheinlich» zu betrachten ist.3 Auch betreffend Fähigkeiten ist Armeechef Thomas Süssli klar: Im Falle eines direkten militärischen Angriffs auf die Schweiz wäre spätestens nach zwei bis drei Wochen Schluss.
Noch deutlicher ist Mauro Mantovani, Dozent Strategische Studien der Militärakademie an der ETH Zürich: «Eine autonome Landesverteidigung ist gegen eine militärische Grossmacht aussichtslos. Sie wäre nur mit eigenen Atomwaffen oder vervielfachten Investitionen in eine konventionelle Verteidigung zu erzielen » – etwa nach dem Vorbild Israels, das eigene Atomwaffen besitzt und über 5,6 Prozent des Bruttosozialprodukts für das Militär ausgibt. Das entspräche in der Schweiz im Jahr 2030 rund 54 Milliarden Franken, also das Zehnfache der aktuellen Armeeausgaben. Eine derart irrwitzige Steigerung ist politisch angesichts der hervorragenden militärischen Sicherheitslage der Schweiz völlig ausgeschlossen. Zudem wäre zu bedenken, ob ein solcher Krieg ohne den Preis der weitestgehenden Selbstzerstörung geführt und gewonnen werden könnte.
Option Nato-Beitritt im Kriegsfall?
Um das offensichtliche Fehlen plausibler Szenarien für einen militärischen Angriff auf die Schweiz wegzureden, behilft sich der Bundesrat der Formel, «eine solche Entwicklung» dürfe dennoch «im Hinblick auf die möglichen verheerenden Auswirkungen nicht ausser Acht gelassen werden» (Armeebotschaft 2024). Und die offensichtliche Unfähigkeit der Schweiz zur «autonomen» Landesverteidigung versucht der Bundesrat dahingehend aufzulösen, dass er die Option für einen Nato-Beitritt im Kriegsfall eröffnen möchte.
Das Ziel, im Ernstfall beitrittsfähig zu sein, will der Bundesrat durch vermehrte Teilnahme an Nato-Übungen und grösstmögliche Interoperabilität erreichen. Das sei ohne Weiteres mit der Neutralität vereinbar. Denn, so der Bundesrat, «entfallen» bei einem «bewaffneten Angriff auf einen neutralen Staat dessen Verpflichtungen aus dem Neutralitätsrecht, und er ist frei, seine Verteidigung gemeinsam mit anderen Staaten zu organisieren».4
Überforderte Milizarmee
Diese Sicht wendet die bisher verfolgte «Vorwirkungslehre» in der 1954 formulierten «Bindschedler-Neutralitätsdoktrin » sozusagen in ihr Gegenteil. Diese forderte, in Friedenszeiten alles zu unterlassen, was den Eindruck erwecken könnte, dass sich die Schweiz in einem Krieg einem Bündnis anschliesst. Neues Ziel ist nun vielmehr, in Friedenszeiten alles vorzukehren, um sich im Falle eines Angriffs nahtlos der Nato anschliessen zu können.
Unbeantwortet bleibt freilich die Frage, wo denn dieser gemeinsame Verteidigungskampf mit der Nato stattfinden soll und welches Interesse die Nato an einem Beitritt der Schweiz zu einem derart späten Zeitpunkt, das heisst, mitten in einem laufenden Krieg, haben könnte. Im schwer vorstellbaren Falle eines direkten militärischen Angriffs auf die Schweiz hätte die Nato wohl andere Sorgen, als der Schweiz am Rhein zu Hilfe zu eilen.
Umgekehrt wäre die Schweizer Armee weiterhin nicht in der Lage, zur Verteidigung der Nato-Aussengrenze beizutragen, worin noch eher ein Sicherheitsgewinn gesehen werden könnte. Denn eine Milizarmee ist in vielfacher Hinsicht völlig überfordert, mit Bodentruppen ausserhalb des eigenen Territoriums einen wirksamen militärischen Beitrag zu leisten, setzt dies neben einer entsprechenden Ausbildung und komplexen Logistik doch eine vielfach erprobte Einbindung in die Kommandostruktur der Nato voraus.
Ausrichtung auf plausible Bedrohungsszenarien
Auch für die Luftwaffe wäre es ohne vorgängige langjährige Mitwirkung in gemeinsamen Manövern zum Üben des Bündnisfalls nach Artikel 5 des Nato-Vertrages selbst mit noch so viel «Interoperabilität» ausgeschlossen, im Kriegsfall wirksame Beiträge zu leisten. Eine integrierte Mitwirkung in Artikel-5-Manövern käme aber einem Nato-Beitritt sehr nahe und ist weiterhin politisch ausgeschlossen. «Die Teilnahme an einigen Übungen der Nato auf kleinstem Feuer» reicht freilich bei Weitem nicht aus, «um die Voraussetzungen für eine nahtlose Zusammenarbeit im Ernstfall» zu schaffen, hielt dazu der inzwischen verstorbene langjährige NZZ-Redaktor und Generalstabsoberst Bruno Lezzi nüchtern fest.5
Statt sich ohne plausible Szenarien mit einer Verdoppelung der Armeeausgaben auf den anerkanntermassen ebenso «unwahrscheinlichen» wie nicht führbaren Verteidigungsfall ab Landesgrenze vorzubereiten und mittels «Interoperabilität» auf eine illusionäre Beitrittsfähigkeit zu bauen, wäre die Armee besser beraten, sich konsequent an plausiblen Bedrohungsszenarien auszurichten, bei denen mit militärischen Mitteln tatsächlich zusätzliche Sicherheit geschaffen werden kann.
Fazit in zwölf Thesen
Der vorgängige Beitrag von Peter Hug («Bündnisfreiheit statt Neutralität») basiert auf einem Vortrag an der Universität Bern vom 20. April 2024 zum Thema «Sicherheitspolitik neu denken – aber wie?» Der ganze Vortrag ist im Online-Handbuch «Eine Aussenpolitik für die Schweiz im 21. Jahrhundert» (www.sga-aspe.ch) nachzulesen.
Wir bringen nachfolgend als Ergänzung dessen zwölf Thesen, «wie sich eine neu gedachte, bedrohungsgerechte und tatsächlich wirksame Sicherheitspolitik zusammenfassend skizzieren lässt».
1. Die Neutralität bildet ein untragbar gewordenes Sicherheitsrisiko. Die Gleichbehandlungspflicht nach Haager Recht ist ebenso schädlich wie Klauseln in Sicherheitsabkommen, welche die Zusammenarbeit mit unseren besten Freunden und Partnern ausgerechnet in jenen Bereichen ausschliessen, in denen sie am wichtigsten wäre.
2. An der Bündnisfreiheit der Schweiz ist festzuhalten. Es gibt keine strategische Notwendigkeit für einen Nato-Beitritt. Projektbezogen erhöht eine enge Sicherheitszusammenarbeit mit der UNO, der EU, der Nato und unseren Nachbarstaaten aber die Sicherheit der Schweiz.
3. Sicherheitspolitik ist weit mehr als Verteidigungsfähigkeit. Das geht unmittelbar aus jeder umfassenden Risikoanalyse hervor. Sowohl in der zeitlichen Abfolge als auch in der Bedeutung hat die Sicherheitspolitik klar Vorrang vor militärischer Verteidigung. In der Analyse trägt der Bundesrat der vieldimensional gewordenen Sicherheitspolitik seit Langem Rechnung, nicht aber in der Zuteilung der knappen finanziellen und personellen Mittel. Dahinter steht eine grundlegende Unfähigkeit zu strategischem Handeln
4. Das Konzept der «autonomen Landesverteidigung» ist überholt. Die Armee muss konsequent an den realen Bedrohungen und plausiblen Szenarien ausgerichtet werden, was eine Fokussierung auf den Schutz- und Rettungsauftrag zulasten des Verteidigungsauftrages namentlich mit Bodentruppen ab Landesgrenze bedeutet. Dies erleichtert auch vermehrte Beiträge an die internationale militärische Friedensförderung. Der Armee fehlt es nicht an Geld, sondern an einer bedrohungsgerechten Ausrichtung.
5. Eine wirksame Sicherheitspolitik setzt Institutionen voraus, die zu strategischem Handeln fähig sind. Denn es gilt, knappe finanzielle und personelle Mittel dort einsetzen, wo sie die grösste Wirkung erzielen, und frühzeitig verbindliche Planungen und Anordnungen einzuleiten, um im Ereignisfall nicht auf den Notfallmodus zurückgreifen zu müssen. Departementalisierung, Ämterrivalität, Föderalismus und Miliz verhindern jedoch ein strategisches Vorgehen und die Anschlussfähigkeit an entscheidende Partner innerhalb und ausserhalb der Schweiz. Ein weisungsbefugter Bundesstab wäre ein erster kleiner Schritt, eine umfassende Staatsleitungsreform letztlich unverzichtbar.
6. Da die Schweiz aufgrund ihrer hoch privilegierten geografischen Lage besonders stark vom Schutz profitiert, den ihr die EU und die Nato bieten, muss sie als Nicht-Mitglied umso mehr auf anderem Gebiete zum globalen öffentlichen Gut «Sicherheit» beitragen, um nicht als egoistische Trittbrettfahrerin ihre Reputation aufs Spiel zu setzen. Dazu gehören namentlich milliardenschwere finanzielle Unterstützungsbeiträge an die Ukraine, an weitere von Russland bedrohte Staaten sowie ein massiv verstärktes Engagement zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsentwicklungsziele der UNO-Agenda 2030.
7. Es gehört zur «Zeitenwende», dass Sicherheitsrisiken stark zugenommen haben, bei denen geografische Distanz keine zusätzliche Sicherheit bietet. Dazu gehören namentlich Cyberrisiken, Desinformation, Hassreden, Verletzlichkeit kritischer Infrastrukturen, Versorgungsrisiken sowie die Unsicherheit erhöhende Aktivitäten des Finanz- und Rohstoffhandelsplatzes Schweiz. Auf all diesen Gebieten hat die Schweiz massiven regulatorischen Nachholbedarf und muss diesbezüglich ihre Zusammenarbeit namentlich mit der EU deutlich intensivieren.
8. Eine internationale Blockbildung liegt nicht im Sicherheitsinteresse der Schweiz. Sie muss aussenpolitisch alles daran setzen, um einen fairen, inklusiven und ungeteilten Multilateralismus im Rahmen des UNO-Systems und der OSZE zu stärken. Gleichzeitig darf die Schweiz gegenüber China, Russland und weiteren potenziellen Aggressoren nicht länger naiv sein, was die Offenheit des Wissenschaftsstandortes und des Finanz- und Rohstoffhandelsplatzes sowie die Vulnerabilität ihrer kritischen Infrastrukturen anbelangt. Hier braucht es eine konsequente De-Risking-Strategie – auch zur Erhöhung der Versorgungssicherheit.
9. Die «Demokratisierung» äusserst machtvoller Technologien verändert das internationale System grundlegend. «High-Tech» zu «Low-Cost» höhlt die staatliche Souveränität aus und vervielfacht die Anzahl potenzieller Aggressoren. Dies erfordert verstärkte präventive Massnahmen gerade für ein Land wie die Schweiz, das in der Technologieentwicklung an der Weltspitze mitmacht. Gleichzeitig müssen auch die Schutzmassnahmen jenseits des Abschreckungsdogmas erhöht werden, das bei terroristisch gesinnten Gruppierungen ohnehin keinerlei Wirkung erzielt.
10. In der Aussenpolitik darf die Sicherheitsrelevanz fehlender guter Regierungsführung nicht länger unterschätzt werden. Die Idee, korrupte Regierungen könnten zur Stabilisierung des internationalen Systems beitragen, ist vielfach widerlegt. Die Stärkung der Menschenrechte und die Bekämpfung von Korruption, Geldwäsche und Straffreiheit gehören zu den wichtigsten Massnahmen einer neu gedachten Sicherheitspolitik. Entsprechend müssen sich Friedensförderung und Mediation konsequent am Rahmen des Völkerrechts und der Menschenrechte ausrichten, um nachhaltige Lösungen zu ermöglichen.
11. Gemäss aktueller Beschlusslage will die Schweiz ihre Armeeausgaben auf ein Prozent des Bruttosozialprodukts BIP erhöhen und die Ausgaben für Beziehungen zum Ausland und für internationale Zusammenarbeit auf 0,46 Prozent BIP einfrieren. Sicherheit neu denken bedeutet, die Prioritäten genau umgekehrt zu legen: Für die Armee 0,36 Prozent BIP (3,43 Mia.), für Beziehungen zum Ausland und für internationale Zusammenarbeit 1 Prozent BIP (9,5 Mia.) und für die Vorsorge und Bewältigung der übrigen vom sicherheitspolitischen Bericht aufgelisteten Risiken zusätzliche 0,1 Prozent BIP – das sind 952 Millionen Franken im Jahre 2030.
12. Auf politischer Ebene braucht es Massnahmen, damit die Schweiz ihre Rolle in Europa und der Welt richtig einschätzen kann. In breiten Teilen des Parlamentes und der Bevölkerung wird die Schweiz realitätsfern als Insel des Friedens und der Sicherheit in einem Meer von Chaos, Gewalt und Armut in der Welt imaginiert – gepaart mit der Handlungsmaxime «Wir gegen die Welt»: Solange wir grösstmögliche Autonomie wahren und die Verteidigungsfähigkeit der Armee massiv erhöhen, könnten wir angeblich alle wichtigen Gefahren an der Landesgrenze der Schweiz abwehren.
Denn Gefahren kommen – so die Imagination – stets von ‹aussen› und machtpolitisch motivierte militärische Bedrohungen überstrahlen scheinbar alle anderen sicherheitspolitischen Herausforderungen. Zum schiefen Selbstbild gehört ferner die Idee, dass von der Schweiz keinerlei Bedrohung oder Gefährdung ausgingen und sie vielmehr weltweit Frieden stifte. Denn die Schweiz sei ein Land, das «nie Kolonien hatte, eigenständig ist, keine versteckte Agenda verfolgt und viel Kompetenz in der Friedensförderung aufgebaut hat» – wie sogar der Bundesrat in seiner «Aussenpolitischen Strategie 2024–2027» meint.
All diese Imaginationen sind weit von der Realität entfernt und haben viel mit schiefen Geschichtsbildern (namentlich über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg) zu tun. Damit die Schweiz in Europa und der Welt ihre Mitverantwortung für Frieden und Sicherheit anerkennen und mitgestalten kann, dürfte ein neuer realistischer Blick auf die tatsächliche historische und aktuelle internationale Rolle der Schweiz unverzichtbar sein.
1 Bundesrat: «Aussenpolitische Strategie 2024–2027». Bericht, Bern, 31. Januar 2024.
2 EDA: «Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Aktionsplan 2022–2025». Bericht, Bern, 29. November 2023.
3 Bundesrat: «Armeebotschaft 2024». Bern, 14. Februar 2024.
4 Bundesrat: «Zusatzbericht zum Sicherheitspolitischen Bericht 2021 über die Folgen des Krieges in der Ukraine». Bericht, Bern, 7. September 2022.
5 Lezzi, Bruno: «Von Feld zu Feld». Edition Königstuhl, Heidelberg 2022.
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