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EU-Machtpoker: Bilaterales Rahmenabkommen CH-EU

Brüssel bildet eine Art Vasallengürtel um sich – offiziell will sie sicherstellen, dass die Regeln des EU-Binnenmarktes homogen ausgelegt und von den EU-Mitgliedstaaten ebenso wie von Drittstaaten mit privilegiertem Marktzugang einheitlich angewandt werden. Die Anbindung erfolgt mittels Zutrittsrechten zum „Binnenmarkt“. Kraft dessen Grösse kann die EU dem Gürtel die eigenen Regeln diktieren. Es handelt sich um eine Art Rechtsimperialismus. Hintergedanke dabei ist wohl bezüglich mancher dieser Vasallen, wegen der fehlenden Mitbestimmung diesen einen allfälligen EU-Beitritt schmackhaft zu machen. Hier wir das Beispiel des von Brüssel gewünschten „Rahmenabkommens“ mit der Schweiz beleuchtet.

Von Paul Ruppen

In den „Schlussfolgerungen des Rates zu den Beziehungen zwischen der EU und den EFTA-Ländern“ http://register.consilium.europa.eu/doc/srv?l=de&f=ST%2016651%202008%20REV%201im Dezember 2008 taucht erstmals die Forderung nach einem Rahmenabkommen auf. Interessant ist, wie eine Forderung verpackt wird: „Der Rat begrüßt die angekündigten Beratungen im Schweizer Parlament, in denen für ein Rahmenabkommen plädiert werden soll. Ein solches Abkommen sollte auch die Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstands bei allen Abkommen sowie einen Mechanismus beinhalten, mit dem die regelmäßige Aktualisierung und einheitliche Auslegung dieser Abkommen gewährleistet wird“.

Zudem heisst es in dem Papier im Brüsseler-Jargon: „Der Rat wird bei der Bewertung des Interessenausgleichs beim Abschluss zusätzlicher Abkommen bedenken, dass parallele Fortschritte in allen Bereichen der Zusammenarbeit notwendig sind, auch in den Bereichen, die –wie vorstehend dargelegt–EU-Bürgern und -Unternehmen Schwierigkeiten bereiten. Der Rat sieht der Vertiefung seiner Partnerschaft mit der Schweiz in verschiedenen Bereichen erwartungsvoll entgegen, erinnert jedoch daran, dass die Teilnahme am Binnenmarkt eine einheitliche und gleichzeitige Anwendung und Auslegung des sich ständig weiter entwickelnden gemeinschaftlichen Besitzstands erfordert. Diese unerlässliche Voraussetzung für einen funktionierenden Binnenmarkt muss - wie es im EWR der Fall ist-in allen Abkommen, über die derzeit mit der Schweiz verhandelt wird (Zollsicherheit, Liberalisierung des Elektrizitätsmarktes, freier Handel mit Agrarerzeugnissen, Gesundheitswesen und Verbraucherschutz) ihren Niederschlag finden“. Damit fordert die EU deutlich die Übernahme von Recht, das ohne formelle Mitentscheidungsrechte des Vertragspartners zu erfolgen hat. Die Forderung aus Brüssel fand in der Schweiz kaum ein Echo. Erst die mehrmalige, jährliche Widerholung der verschärften Forderungen – unter anderem die Aufhebung der 8-Tage-Regelung zum Schutze des Lohnniveaus in der Schweiz - führten zu zusammen mit handfesterem Druck zu einer aufkeimenden Diskussionen in der Schweiz. Im Geltungsbereich des Abkommens über technische Handelshemmnisse etwa hat die EU neue Normen für zahlreiche Produkte erlassen: unter anderem Medizinaltechnik, Messgeräte, Aufzüge und Telekommunikationsgeräte. Es handeltl sich um Branchen, die für die schweizerische Exportwortschaft bedeutend sind. Die Firmen möchten, dass die neuen Normen schnell ins Abkommen über die technischen Handelshemmnisse übernommen werden – sonst könnte neben einer Prüfung in der schweiz eine zweite durch eine EU-Instanz rechtlich von der EU velangt werden - mit entsprechenden zeitlichen Verzögerungen und zusätzlichen Kosten. Zielsicher hat die EU diese Schwachstelle erkannt, um Druck bezüglich „Rahmenabkommens“ aufzusetzen. Im aussenpolitischen Bericht des Bundes 2017 steht, die EU habe im Jahr 2016 wichtige Anpassungen von Abkommen verzögert. «Der Bundesrat hat sein Missfallen über diese Haltung der EU klargemacht.» Eine weiters Müsterchen für die Art, wie Brüssel mit „befreundeten“ Staaten umgeht, um Druck aufzusetzen: die nur befristet Anerkennung der Schweizer Börsenregulierung, für die es offenbar keine rechtlichen Vorbehalte sondern nur politischen Gründe gibt.

Nach zähem Hin- und Her wurde der Geltungsbereich des Rahmenabkommens offenbar auf fünf zentrale (und auf allfällige neue, wie das Stromabkommen) Marktzugangsabkommen begrenzt: Die Abkommen über die Personenfreizügigkeit, den Land- und Luftverkehr, die technischen Handelshemmnisse und die Landwirtschaft – wobei es insgesamt über 120 bilaterale Abkommen gibt. Die Schweiz hätte bei der dynamischen Übernahme des neuen EU-Rechts bezüglich der 5 Abkommen drei Jahre Zeit für die Umsetzung ins Schweizer Recht.

Bei unlösbaren Differenzen über die Auslegung der bilateralen Abkommen würde sich ein paritätisch zusammengesetztes Schiedsgericht der Streitbeilegung annehmen – statt des Europäischen Gerichtshofes. Allerdings gelten gewisse Vorbehalte: Geht es in einem politisch unlösbaren Streit um EU-Recht, soll das Schiedsgericht die Rechtsprechung des EuGH berücksichtigen oder den EuGH befragen, wenn noch keine Rechtsprechung vorliegt. Geht es um rein bilaterale Vereinbarungen ohne direkte Entsprechung im EU-Recht, würde das Schiedsgericht alleine entscheiden. Die drei Schiedsrichter sollen unabhängiger agieren, als Brüssel zunächst zulassen wollte. Die EU und die Schweiz könnten Argumente für oder gegen eine Anrufung des EuGH geltend machen.

Der EuGH wird sich allerdings in einem Gutachten zum Rahmenabkommen äussern müssen und wird eifersüchtig darauf achten, dass seine Kompetenzen nicht beschränkt werden. Es stellt sich hier das Problem, sauber zu definieren, was EU-Recht und was bilaterales Recht ist. Im Rahmenabkommen soll aber auch geregelt werden, was passiert, wenn sich eine Partei nicht an die Rechtsauslegung der richterlichen Instanz hält. In diesem Fall hätte gemäss heutigem Verhandlungsstand die andere Partei das Recht, Gegenmassnahmen zu ergreifen. Über deren Verhältnismässigkeit würde ebenfalls ein paritätisch zusammengesetztes Schiedsgericht befinden.Bei staatlichen Beihilfen für Unternehmen konnte die Schweiz eine generelle Regelung im Rahmenabkommen abwenden.

Die EU beharrt auf einem Abbau der flankierenden Massnahmen zum Schutz vor Lohndumping. Die Voranmeldefrist für ausländische Firmen, die Arbeiter in die Schweiz schicken wollen könnte bleiben, wobei die Frist von acht Tagen auf vier Arbeitstage verkürzt würde. Die Kautionspflicht würde ebenfalls bestehen bleichen – aber nur für Firmen, die nicht an die schweizerischen Regeln gehalten haben. Kontrollen zur Einhaltung der Regeln dürften nicht mehr flächendeckend, sondern nur noch „risikobasiert“ durchgeführt werden. Die Unionsbürgerrichtlinie, die einen rascheren Zugang zur Sozialhilfe sowie restriktivere Voraussetzungen für Ausschaffungen vorsieht als die heutige bilaterale Regelung, wird nicht offziell ins Rahmenabkommen übernommen, wird aber auch nicht offeziell ausgeschlossen. Dies könnte in der Zukunft zu Konflikten führen. In der Kündigungsklausel des Rahmenabkommens ist wiederum eine Guillotine vorgesehen – die Kündigung eines der Abkommen würde zu einem Verfall aller 5 Abkommen führen.

Das Vorergebnis der Verhandlungen zeigt: die EU ist nur bereit, kosmetische Zugeständnisse zu machen – sonst bleibt sie knallhart. Dies liegt am herrschenden Machtungleichgewicht: 2017 erfolgten Exporte im Gegenwert von 117.07 Milliarden in die EU (53.09% der gesamten Exporte der Schweiz), die Importe aus der EU machen aber nur 8.03% der EU-Exporte aus. https://www.eda.admin.ch/dam/dea/de/documents/faq/schweiz-eu-in-zahlen_de.pdf Deshalb erscheint es „natürlich“, dass die EU eine automatische Rechtsübernahme verlangen kann – und niemand käme es in den Sinn, umgekehrt von der EU zu verlangen, Schweizer Regulierungen automatisch zu übernehmen. Diese Überlegung zeigt, wie ungleichgewichtig das Verhältnis zwischen der EU und der Schweiz ist. Auch hier könnte – wie eventuell beim Brexit-Deal – gelten: die EU könnte zuviel Erfolg gehabt haben und damit das Rahmenabkommen auf Grund der Diskussionen in der Schweiz zum Abstürz geführt haben.


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