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Kurzinfos Februar 2020
Der Brexit gefährdet die Klimaziele der EU Ohne Grossbritannien wird es für die EU noch schwieriger, die politischen Klimaziele zu erreichen – für die Umwelt ist das nicht unbedingt schlecht.
Die EU will in diesem Jahr ihre Klimaziele weiter verschärfen: Bis 2030 möchte die Kommission den Ausstoss von Treibhausgasen stärker reduzieren als bisher geplant. Ab 2050 soll es keine Nettoemissionen mehr geben. Das könnte schwierig werden. Denn mit dem Vereinigten Königreich verliert die EU einen Musterschüler in Sachen Klimapolitik.
Die Briten erzeugen pro Kopf zwar nicht viel weniger Treibhausgase als der Durchschnittsbürger der EU. Aber kaum ein Land hat seit 1990 mehr Klimagase eingespart. Das liegt unter anderem daran, dass Grossbritannien damals viel mehr Industrien beheimatete als heute und rund zwei Drittel des Stroms aus Kohlekraftwerken bezog. Heute kommt dieser vor allem aus Erdgas, Kernkraft und Windparks vor der Küste.
Die EU-Klimaziele beziehen sich auf das Jahr 1990: 2030 sollen die produzierten Treibhausgase um 40 Prozent geringer sein als 1990. Das Vereinigte Königreich ist einer der wenigen Staaten, die diesen Wert jetzt schon übertroffen haben. Die meisten Länder haben ihn noch lange nicht erreicht. Sie müssen nun mehr leisten als geplant, um die gut 2 Prozentpunkte Ersparnis wettzumachen, die der EU durch den Brexit entgehen.
Dass Grossbritannien seine Einsparungen in Zukunft getrennt verrechnet, macht für die Umwelt natürlich keinen Unterschied. Sollte die EU deswegen an der 40-Prozent-Marke scheitern, hat dies aber symbolische Bedeutung – insbesondere wenn die EU in Sachen Klimapolitik ein Vorbild bleiben will. Das bestätigt Oliver Geden, Leiter der Forschungsgruppe Europa der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin und Leitautor des Klimaberichts der Vereinten Nationen. «Im Bereich erneuerbare Energien und Energieeffizienz ist Grossbritannien kein Vorreiter. Aber diese Ziele haben weniger Symbolkraft als die 40-Prozent-Marke», sagt er.
Der Brexit wird auch die zukünftige Klimapolitik der EU beeinflussen. Der Auszug der britischen Abgeordneten schwächt leicht die Fraktion der Grünen im Europäischen Parlament. Zudem waren die Vertreter der britischen Regierung in Brüssel traditionell für ambitionierte Klimapolitik eingetreten.
Sie bremsten zwar direkte Eingriffe zur Unterstützung einzelner Technologien wie Wind- oder Sonnenenergie. Dafür machten sie sich für den Emissionshandel stark, also jenen Markt, auf dem Firmen Zertifikate kaufen müssen, um Klimagase produzieren zu dürfen.
In Grossbritannien gibt es sogar einen Mindestpreis für diese Zertifikate, der Emissionen für die dortigen Firmen sehr viel teurer machte als für die Konkurrenz im Rest der EU. Ob Grossbritannien nun in diesem Markt bleibt oder wie die Schweiz einen eigenen aufbaut, der mit jenem der EU nur gekoppelt ist, muss noch verhandelt werden.
Offen sind auch Budgetfragen: Im Moment wird verhandelt, wer das Loch im EU-Haushalt stopft, das der Nettozahler Grossbritannien hinterlässt. Rund ein Viertel der EU-Ausgaben soll zum Klimaschutz beitragen. Ein Teil dieses Geldes könnte in Zukunft fehlen – auch in Grossbritannien selbst. Was mit den Projekten passiert, die die EU dort finanzierte, bleibt abzuwarten.
Premierminister Boris Johnson wartete mit grossen Ankündigungen auf: Ab 2035 sollen keine Autos mehr verkauft werden, die mit Benzin, Gas oder Diesel fahren – fünf Jahre früher als bisher geplant. Die neue Regel soll auch Hybride betreffen. In vier Jahren solle das letzte Kohlekraftwerk schliessen, 2050 sollten überhaupt keine Klimagase mehr verursacht werden.
Vor einigen Jahren hatte sich Johnson noch als Kolumnist über übertriebene Sorgen wegen des Klimawandels lustig gemacht. Simon Evans, Politikanalyst der britischen Internetpublikation «Carbon Brief», hat eine einfache Erklärung für den Kurswechsel: «Die meisten Briten wünschen sich Klimapolitik. Die Konservative Partei nutzt das ganz pragmatisch für sich.» Nun müsse man abwarten, welche konkreten Massnahmen die Regierung vorschlagen werde, um ihre Ziele zu erreichen.
Grossbritannien hat eines der strengsten Gesetze zum Klimaschutz überhaupt. Die Climate Change Act wurde bereits 2008 unter dem damaligen Premierminister Tony Blair eingeführt. Seitdem legt ein Komitee unabhängiger Wissenschafterinnen und Wissenschafter zwölf Jahre im Voraus fest, wie viele Treibhausgase maximal produziert werden dürfen – dieser Wert wird rechtlich verankert, und die Regierung ist verpflichtet, daraus Massnahmen abzuleiten.
Die künftigen Entscheidungen in der britischen Klimapolitik werden von besonderem Interesse sein, da das Land 2020 die Uno-Klimakonferenz beherbergt. Die 26. Ausgabe wird im November in Glasgow stattfinden. NZZ, 11. Februar 2020, S. 6
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Die hohe Abwanderung aus Osteuropa ist die Schattenseite der Freizügigkeit Der kroatische Ministerpräsident Andrej Plenkovic wählte einen drastischen Vergleich, als er vor einigen Wochen den Bevölkerungsschwund in seinem Land beschrieb: «Wir verlieren jedes Jahr das Äquivalent einer Kleinstadt von 15 000 bis 16 000 Personen.» Für eine Bevölkerung von gut vier Millionen sei dies keine geringe Zahl. «Das ist ein strukturelles, fast existenzielles Problem für einige Nationen, und wir sind nicht die Einzigen», klagte Plenkovic der «Financial Times».
Schon seit langem werden in Kroatien, dem jüngsten Mitgliedsstaat der Europäischen Union, Jahr für Jahr weniger Kinder geboren. Waren es Anfang der neunziger Jahre noch gut 47 000, verringerte sich die Zahl auf 37 000 im Jahr 2018. Mit 4,07 Millionen Menschen schrumpfte die Bevölkerungszahl zu Beginn des vergangenen Jahres sogar auf den niedrigsten Stand seit 1957. Doch als Grund dafür machte Plenkovic nicht nur die rapide sinkende Geburtenrate aus. Er erwähnte auch das Recht des freien Personenverkehrs, in dessen Genuss seine Landsleute gekommen seien.
Tatsächlich verlassen ausgerechnet die Kroaten in Scharen ihr Heimatland. Der Staat an der Adria war im Sommer 2013 von seinen Nachbarn dafür beneidet worden, dass er als zweites Land des ehemaligen Jugoslawien den Beitritt zur EU schaffte und so den vollen Zugang zum gemeinsamen Binnenmarkt erhielt. Doch das versprochene Wirtschaftswunder trat nicht ein. Niedrige Löhne, mangelnde Perspektiven und eine immer noch weitverbreitete Korruption haben stattdessen vor allem junge Leute ausser Landes getrieben.
So leben nach Angaben der Luxemburger Statistikbehörde Eurostat mittlerweile 15,4 Prozent der Kroaten im arbeitsfähigen Alter in einem anderen EU-Mitgliedstaat – ein Wert, der innerhalb der EU nur noch von Rumänien mit 21,3 Prozent übertroffen wird. Zwischen 190 000 und 300 000 Kroaten sollen das Land seit 2013 bereits verlassen haben, und ein Ende des Exodus ist nicht in Sicht. Kroatien drohe ein «demografischer Kollaps», der sich auf die gesamte Wirtschaft, auf das Renten-, Gesundheits- und Bildungssystem auswirken werde, zitiert die Nachrichtenagentur AFP den Bevölkerungswissenschafter Stjepan Sterc.
Hat sich die Personenfreizügigkeit (PFZ), die auch in der Schweiz wieder zu reden gibt, im Falle Kroatiens als Gift erwiesen? Für die EU-Kommission ist sie in jedem Fall ein politisches Heiligtum – schon aus historischen Gründen. Schliesslich sollte der Kontinent nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nicht länger durch Grenzen beschränkt sein und zusammenwachsen. Das Recht, als EU-Bürger in jedem anderen Mitgliedsstaat sein Glück zu suchen, wurde von den Hütern der Verträge stets auch als friedensförderndes Gut begriffen. Und ökonomisch schienen sowieso alle Gründe für den freien Personenverkehr zu sprechen: Würden Unternehmen nicht von der grösseren Anzahl an potenziellen Arbeitskräften profitieren und Gastländer von höheren Steuereinnahmen? Würde dies nicht umgekehrt eine Entlastung der von Arbeitslosigkeit geplagten Herkunftsländer bedeuten, und kämen die Rücküberweisungen nicht den zurückbleibenden Verwandten zugute?
Zumindest nach gängiger ökonomischer Lehre gilt die PFZ als Win-win-Situation für Abwanderungs- und Zuwanderungsregionen. Sie fördere die Produktivität und Innovation und damit den Wohlstand insgesamt, sind sich die meisten Ökonomen einig. Als eine der vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes ist sie neben dem freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital in den EU-Verträgen fixiert. Dass die bisher fast ausschliesslich von Osten nach Westen und von Süden nach Norden verlaufende Binnenmigration allerdings zu einem regelrechten Aderlass in Ost- und Südosteuropa geführt hat und dass dies die wirtschaftliche Entwicklung der Herkunftsstaaten stark gefährdet, scheinen Experten lange ignoriert zu haben.
Geschrumpft sind die Bevölkerungen durch sinkende Geburtenraten und massive Abwanderung in fast allen exkommunistischen Staaten. Aus dem kleinen Litauen etwa wanderten seit dem EU-Beitritt 2004 eine halbe Million Bürger aus – fast jeder sechste Einwohner. In Bulgarien, Rumänien oder Lettland sieht die Lage kaum rosiger aus. Fast vier Millionen Menschen etwa verlor der EU-Staat Rumänien seit dem Sturz des kommunistischen Diktators Nicolae Ceausescu im Jahr 1990, was laut einem Bericht des Balkan Investigative Reporting Network 16,4 Prozent der Bevölkerung entspricht.
Verbunden ist die Massenabwanderung nach Westeuropa (vor allem nach Deutschland und Grossbritannien) mit einem dramatischen Braindrain von Ärzten, Technikern und Facharbeitern, die in ihren Herkunftsländern eigentlich dringend benötigt werden. Wachsen die Länder dadurch langsamer als erhofft, sehen Akademiker ihre Jobchancen schrumpfen und entscheiden sich erst recht für die Emigration – ein Teufelskreis. Doch wirklich zur Debatte stellen wollen die osteuropäischen Regierungschefs die PFZ auch nicht. «Sie ist eine der Grundlagen der EU, welche grosse Möglichkeiten für unsere Bürger schafft», liess der Kroate Plenkovic die Presse wissen.
Fast vergessen sind die Zeiten, in denen die PFZ in Westeuropa mit der sprichwörtlichen Angst vor dem «polnischen Klempner», das heisst der Sorge vor Lohndumping, verbunden war. Um ihr entgegenzukommen, wurde bei der EU-Osterweiterung von 2004 den alten EU-Staaten die Möglichkeit eingeräumt, für eine Übergangsfrist von sieben Jahren ihre Arbeitsmärkte abzuschotten. Einige Staaten wie Grossbritannien verzichteten darauf, woraufhin sich auf der Insel Zehntausende Polen niederliessen. Dass dies auch Abwehrreaktionen provozierte, war absehbar. Nicht wenige Briten stimmten auch wegen der billigen Arbeitskräfte aus dem Osten für den Brexit. Umgekehrt hat der Strom der Abwanderung in den Herkunftsländern eine antiliberale Politik gedeihen lassen, wie der bulgarische Intellektuelle Ivan Krastev glaubt: Weil sich die Jungen auf den Weg machten und die Alten und Ängstlichen zurückblieben, habe dies vielerorts den Boden für populistische Politiker bereitet. NZZ, 19. Februar 2020, S. 14.
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Brüssel wiegt sich in falscher Sicherheit Der britische Premierminister Johnson tut so, als sei er an einer engen Anbindung an den europäischen Binnenmarkt gar nicht interessiert. Das ist mehr als populistisches Getöse. Die Briten gehen mit guten Gründen auf Distanz.
Man könnte es allzu leicht als populistische Wichtigtuerei vor heimischem Publikum abtun, was Boris Johnson am 3. Februar 2020 in seiner Rede zur künftigen EU-Politik von sich gab: «Wir werden die volle souveräne Kontrolle über unsere Grenzen, die Zuwanderung, die Regeln des Wettbewerbs, der Staatshilfen und des öffentlichen Beschaffungswesens wiederherstellen.» Damit stellte sich Johnson diametral gegen die Forderungen Brüssels, das als Bedingung für ein Freihandelsabkommen die fortgesetzte enge Anbindung des Vereinigten Königreichs an just diese Regeln fordert.
Doch hinter Johnsons provokativen Ankündigungen steckt durchaus strategische Substanz. Grossbritannien tut gut daran, zum Auftakt der anstehenden Verhandlungen mit Brüssel über das künftige bilaterale Verhältnis selbstbewusst und distanziert aufzutreten. Zunächst ist das verhandlungstaktisch klug, denn wenn ein Land mit einem fast achtmal grösseren Block von 27 Ländern verhandelt, dann sollte es nicht schon von Anfang an Schwäche demonstrieren.
Wichtiger ist aber das strategische Ziel der Unabhängigkeit Grossbritanniens. Bisher war unter den «Remainern» im Inland wie im Ausland allzu selbstverständlich angenommen worden, die Insel werde auf ein Handelsregime der engen Kooperation mit der EU angewiesen und damit leicht erpressbar sein. Es ist das Verdienst Johnsons bzw. seines Beraters Dominic Cummings, energisch an dieser trügerischen Selbstgewissheit zu rütteln. Zwar ist es richtig, dass 45 Prozent der britischen Exporte und 53 Prozent der Importe (Zahlen für 2018) über die EU-Grenze gehen. Entsprechend berechtigt sind Warnungen vor wirtschaftlichen Turbulenzen, Arbeitsplatzverlusten und kurzzeitigen Engpässen, sollten auf einen Schlag Grenzkontrollen, Zölle und andere Hemmnisse errichtet werden. Doch diese Sichtweise wird der langfristigen Dynamik wirtschaftlicher Prozesse nicht gerecht.
Zudem hat Premierminister Johnson Zeit. Da er im Dezember ein starkes Regierungsmandat errungen hat, muss er sich erst Ende 2024 wieder um seine Wiederwahl sorgen. Er kann sich folglich eine vorübergehende Wirtschaftsschwäche politisch leisten, sollten die Verhandlungen mit der EU bis Ende des Jahres scheitern. Dafür könnte er seinen Anhängern seine Logik des Brexits erklären: Soll der Brexit jenseits von fragwürdiger Symbolpolitik einen Sinn haben, dann muss Grossbritannien mehr Freiheit haben als in der Vergangenheit, für sich selbst passende Regeln und Regulierungen zu schaffen. Wozu denn sonst der dramatische Austritt, wenn sich danach möglichst nichts ändern soll?
Die Verhandlungsführer und Politiker in der EU sollten deshalb die britische Entschlossenheit, einen eigenen Weg zu gehen, nicht unterschätzen und über die Folgen nachdenken. Wenn ein beidseits nützliches Handelsabkommen scheitert, dann hat das auch für die EU negative Konsequenzen: Der Handel wird auch für die Mitgliedländer beeinträchtigt werden. Die Kooperationsbereitschaft der Briten wird auf anderen Feldern, etwa in der Verteidigungspolitik, der Aussenpolitik oder der Forschung, leiden, zum Schaden der EU. Will die EU das Vereinigte Königreich durch eine harte Verhandlungspolitik tatsächlich in diese Ecke treiben?
Manche Anzeichen deuten darauf hin. Der EU-Verhandlungsführer Michel Barnier erklärte am Montag kühl, es sei ganz am Vereinigten Königreich zu entscheiden, ob es sich weiterhin an die EU-Regeln halten oder davon abweichen wolle – davon werde dann eben das Ausmass an künftigem Freihandel abhängen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betonte kämpferisch, die Kommission werde die Interessen der EU bis zum Letzten verteidigen. Hier wird wenig Kompromissbereitschaft demonstriert.
Was dahintersteckt, machte der Fraktionsvorsitzende der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament, Manfred Weber, vergangene Woche in einem Interview mit der «Welt» deutlich: «Wenn der Brexit gefühlt zum Erfolg wird, dann ist das der Anfang vom Ende der EU.» Der Austritt aus der EU sei ein Fehler gewesen, fügte Weber an, deshalb müsse Grossbritannien dessen Folgen zu spüren bekommen. Der Brexit soll nach dem Kalkül von Brüssels zentralistischen Machtpolitikern also scheitern, um zweifelnde Mitgliedländer vor Nachahmung abzuschrecken.
So argumentiert keine starke und selbstbewusste Union, sondern ein Bündnis, das Angst um die eigene Zukunft hat. Warum stellt sich Brüssel nicht der Herausforderung eines unabhängigen Grossbritannien, das im Wettbewerb der Systeme erst noch beweisen müsste, ob es dadurch stärker oder schwächer wird? Warum begleitet die EU nicht das Experiment des britischen Alleingangs mit Interesse, weil es davon vielleicht für sich selbst etwas lernen und stärker werden könnte? Weil die EU-Führung selbst nicht in die eigene Stärke und Attraktivität vertraut. Dem Muskelspiel einer derart verängstigten Union widersetzt sich London zu Recht. NZZ, 4. Februar 2020, S. 11
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Blitzabschiebungen sind gemäss EGMR rechtens Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 13. Februar 2020 einem Einspruch der spanischen Regierung stattgegeben und Madrid bescheinigt, dass seine Behörden bei den Sofortabschiebungen, den sogenannten Push-backs, in ihren Exklaven in Nordafrika nicht illegal gehandelt hätten. Mit dem Urteilsspruch ist es der spanischen Regierung nun freigestellt, an ihren von Menschenrechtsorganisationen kritisierten Abschiebepraktiken festzuhalten.
In Ceuta und Melilla werden Jahr für Jahr Migranten, die versuchen, die meterhohen Grenzzäune zu überwinden, gegen ihren Willen auf marokkanischen Boden zurückgebracht, ohne vorher anwaltlichen Beistand erhalten zu haben. «Dieses Urteil wird von anderen Ländern in Europa als Blankocheck für Abschiebungen an der Grenze interpretiert werden», glaubt Wolfgang Kaleck, Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) mit Sitz in Berlin. Die NGO hatte die beiden Kläger, die sich juristisch gegen ihre Abschiebung gewehrt hatten, unterstützt.
In der ersten Instanz hatten sieben Richter des EGMR Spanien im Oktober 2017 wegen der Abschiebungen der zwei aus Mali und der Elfenbeinküste stammenden Männer Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Spanien wurde zur Zahlung von Schadenersatz in der Höhe von 5000 Euro pro Person verurteilt. Die spanische Regierung reichte im September 2018 Rekurs ein, weshalb der Fall nun vor der Grossen Kammer des EGMR erneut verhandelt wurde.
Die beiden Afrikaner hatten im August 2014 mit etwa 70 weiteren Personen die Grenzanlage bei Melilla überwunden. Die spanischen Grenzschützer brachten sie umgehend nach Marokko zurück, ohne Verfahren und ohne Rechtsschutzmöglichkeit. Videoaufnahmen zeigten, dass die Migranten marokkanischen Sicherheitskräften übergeben wurden, die sie mit Schlägen und Tritten durch eines der Tore im Grenzzaun nach Marokko zurücktrieben. Die beiden Männer, die gegen Spanien geklagt hatten, wurden laut eigenen Angaben in die 300 Kilometer entfernte Stadt Fez gebracht und dort freigelassen.
Die grosse Kammer des EGMR kam nun zur Auffassung, dass sich die beiden Nordafrikaner selbst in eine illegale Situation gebracht hätten, als sie zusammen mit den anderen Migranten versuchten, den Grenzzaun zu überwinden, um auf spanischen Boden zu gelangen. Sie hätten sich dagegen entschieden, die existierenden Mittel auszuschöpfen, die es ihnen ermöglicht hätten, auf legale Weise auf spanisches Terrain zu gelangen. Die Migranten hätten bei der diplomatischen Vertretung Spaniens in ihren Heimatländern oder in Marokko Asylanträge stellen können. Sie hätten sich jedoch ohne zwingenden Grund einem Massenansturm angeschlossen, um gewaltsam die Grenze zu überwinden, hiess es in der Urteilsbegründung. Beim ECCHR kritisiert man den Zynismus der Richter, denen sehr wohl bewusst sei, dass es in den betroffenen Ländern de facto keine Möglichkeit gibt, Botschaftsasyl zu stellen. Schwarzafrikaner würden zudem an den marokkanischen Passkontrollen nicht durchgelassen, um sich bei der Asylbehörde an der Grenze von Melilla oder Ceuta zu melden, kritisiert Kaleck.
Spaniens Sozialisten hatten, als sie noch in der Opposition waren, gegen die Massenabschiebungen aus den spanischen Exklaven in Nordafrika Verfassungsbeschwerde eingelegt. Doch als Parteichef Pedro Sánchez im Sommer 2018 an die Macht kam, verteidigte er die Vorgehensweise mit den gleichen Argumenten wie die konservativen Vorgänger vom Partido Popular. Im vergangenen Dezember begannen die Behörden damit, den messerscharfen Natodraht rund um die beiden Exklaven, an dem sich viele Migranten beim Überklettern der Grenzzäune verletzten, zu entfernen. Stattdessen werden an einigen Punkten die Schutzzäune von sieben auf zehn Meter erhöht.
Trotz diesen Massnahmen ist die Zuwanderung aus dem Süden für Spanien, auch wegen der Unterstützung Marokkos, derzeit eigentlich das geringere Problem. So sank die Zahl der irregulären Grenzübertritte von Migranten aus Nordafrika im vergangenen Jahr gegenüber 2018 um 49,4 Prozent auf 32 513 Personen. Am stärksten zurück ging die Zahl der Bootsflüchtlinge – nur noch 26 168 Personen landeten letztes Jahr auf spanischem Boden, das ist im Vergleich zu 2018 ein Rückgang von 54 Prozent. Die einzige Migrationsroute, die verstärkt genutzt wurde, war die Überfahrt von den Küsten Nord- und Westafrikas auf die Kanarischen Inseln. 2700 Personen kamen 2019 nach einer zum Teil mehrere hundert Kilometer langen Bootsfahrt auf der Inselgruppe an, das sind doppelt so viele Ankünfte wie 2018. Grösseres Kopfzerbrechen bereitet der spanischen Regierung die Zunahme der Asylanträge, die sich im Vergleich zu 2018 von 54 000 auf 112 000 mehr als verdoppelt haben. Die meisten Gesuche wurden an den Flughäfen des Landes gestellt, sie kommen grossmehrheitlich von Lateinamerikanern. Spanien rangiert bei den Asylanträgen auf Rang drei in Europa, hinter Deutschland und Frankreich. Die spanischen Asylbehörden sind chronisch überlastet. Die Bearbeitung der Gesuche geht schleppend voran, manche Anträge liegen Jahre in der Schublade. 75 Prozent werden abgelehnt. NZZ, 14. Februar 2020, S. 3
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Grossbritannien will keine EU-Wettbewerbsregeln akzeptieren Die britische Regierung hat sich gegen Kontrollen der EU nach einem Freihandelsabkommen mit Brüssel ausgesprochen. «Zu glauben, wir könnten eine EU-Aufsicht in Fragen sogenannter gleicher Wettbewerbsvoraussetzungen akzeptieren, übersieht schlicht den Punkt, um den es geht», sagte der britische Chefunterhändler David Frost am 17. Februar 2020 in einer Rede vor Studenten an der Freien Universität Brüssel. Grossbritannien sei überhaupt nur deswegen aus der Europäischen Union ausgetreten, damit diese sich nicht mehr in Regeln und Vorschriften einmischen könne, erklärte Frost. Das sei nicht nur eine Verhandlungsposition, sondern der Kern des Brexits: die volle politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit Grossbritanniens.
Aus demselben Grund werde die britische Regierung auch keiner längeren Übergangsperiode zustimmen. Am 1. Januar 2021 werde das Vereinigte Königreich wie geplant seine Unabhängigkeit wiedererlangen. «Warum sollten wir dies hinauszögern wollen?», fragte Frost, der vom britischen Premierminister Boris Johnson kürzlich zum Leiter der Verhandlungen zwischen Grossbritannien und der EU ernannt wurde. Der 54-jährige ehemalige Vorsitzende des Verbands der schottischen Whisky-Hersteller berichtet in dieser Funktion direkt an Johnson. Sein erster öffentlicher Auftritt wurde in Brüssel mit Spannung erwartet.
Grossbritannien hatte die EU am 31. Januar um Mitternacht verlassen. Während der Übergangsfrist, die bis Ende Jahr dauert, soll sich aber praktisch nichts ändern. Grossbritannien muss sich weiter an alle EU-Regeln halten und in den gemeinsamen Haushalt einzahlen, ohne Mitsprache in Brüssel zu haben. Ab Anfang März soll über ein dauerhaftes Handels- und Partnerschaftsabkommen verhandelt werden. Die EU hat erklärt, sie strebe bestmögliche Handelsbeziehungen ohne Zölle und Mengenbeschränkungen für britische Waren im Binnenmarkt an. Sie verlangt dafür allerdings, dass es für Unternehmen aus EU-Mitgliedsstaaten eine eindeutig überprüfbare Chancengleichheit in Grossbritannien gibt – von Umweltstandards bis zu Regierungsbeihilfen.
Frost sagte dazu, Premierminister Johnson habe schon versichert, dass Grossbritannien weiter die höchsten Umwelt- und Sozialstandards einhalten werde. London stelle ja auch nicht die Forderung, dass die EU «höhere britische Standards» übernehme. Man erwarte nur das, was die EU auch anderen Nationen in Freihandelsabkommen versprochen habe. Wenn die EU eine solide Partnerschaft wolle, «dann ist der einzige Weg, auf der Grundlage einer Beziehung gleichberechtigter Partner aufzubauen». In seiner Brüsseler Rede wiederholte Frost den Wunsch der britischen Regierung, ein Abkommen nach dem Vorbild des Vertrages zwischen der EU und Kanada abzuschliessen.
Habe die Europäische Union den Brexit überhaupt je verstanden, fragte der Chefunterhändler die Studenten schliesslich und schickte eine Antwort gleich hinterher: Für Brüssel sei das Ergebnis des britischen Referendums von 2016 wie eine «schreckliche unvorhersehbare Naturkatastrophe» gewesen, «wie von der Art desjenigen Meteoriten, der die Dinosaurier auslöschte». Dabei habe es bereits vor dem Brexit klare Signale der Briten wie die Ablehnung der einheitlichen Währung oder das Fernbleiben vom Schengen-Raum gegeben, dass man mit dem eingeschlagenen Kurs der EU nicht zufrieden sei, so Frost. NZZ, 19. Februar 2020, S. 4.
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Die Brexit-Zwischenbilanz German-foreign-policy, 20. Februar 2020,
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8193/
Deutsche Wirtschaft verzeichnet milliardenschwere Brexit-Verluste. Kaum Verlagerung von Finanzjobs aus London nach Frankfurt am Main
LONDON/BERLIN - Deutsche Wirtschaftskreise dringen energisch auf den erfolgreichen Abschluss eines Handels- und Partnerschaftsabkommens mit Großbritannien. Schon jetzt verzeichnen deutsche Unternehmen jährliche Milliardeneinbußen, weil die EU noch keine Regelung für die Post-Brexit-Wirtschaftsbeziehungen mit dem Vereinigten Königreich getroffen hat. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) beziffert die Einbußen beim deutschen Wachstum seit dem Referendum im Juni 2016 auf 0,8 Prozentpunkte. Wird bis Jahresende keine Einigung auf ein Abkommen erzielt, dann rechnet das DIW mit Wachstumsverlusten von rund 0,6 Prozentpunkten allein im Jahr 2021. Aktuelle Schätzungen sehen das diesjährige Gesamtwachstum bei 0,7 Prozent. Dessen ungeachtet pokert Brüssel hoch und verlangt von London eine umfassende vertragliche Anpassung an die Normen und Standards der EU - einen Schritt, den Großbritanniens Regierung, durch den Austritt unabhängig geworden, strikt zurückweist. Die Zugewinne der deutschen Finanzbranche durch den Brexit fallen weitaus schwächer aus als erhofft.
Die Bedingungen der EU
Für die Verhandlungen über das geplante Handels- und Partnerschaftsabkommen, das nach dem Ende der Brexit-Übergangsphase Ende des Jahres die Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU regeln soll, haben Brüssel und London ihre Positionen inzwischen offiziell abgesteckt. Sie erstrecken sich vor allem auf Wirtschaftsthemen, umfassen allerdings auch die sogenannte Innere Sicherheit sowie die Außen- und Militärpolitik. Die EU-Kommission hat den Entwurf für das Verhandlungsmandat bereits am 3. Februar vorgelegt. Sie bietet dem Vereinigten Königreich zwar prinzipiell freien Handel ohne Zölle und Quoten an - nicht zuletzt im Interesse auch deutscher Konzerne, die wie etwa BMW in Großbritannien Produktionsstandorte unterhalten, deren Lieferketten wiederum eng mit dem Kontinent verflochten sind. Als Gegenleistung fordert die EU von London allerdings eine formelle Übernahme von EU-Normen, etwa Sozial-, Umwelt- oder Klimastandards sowie Beschränkungen von Staatsbeihilfen.[1] Das EU-Parlament hat vergangene Woche noch härtere Bedingungen formuliert; es verlangt beispielsweise die Einhaltung von EU-Produkt- und Verbraucherschutzstandards sowie von EU-Regelungen für die Mehrwertsteuer. Das Parlament bietet sich damit EU-Verhandlungsführer Michel Barnier als Instrument an, den Druck auf London zu erhöhen. Die Brexit-Koordinierungsgruppe des Europaparlaments, der Barnier Bericht erstatten muss, wird von dem deutschen Abgeordneten David McAllister (CDU) geleitet.
"Keine EU-Aufsicht"
Großbritanniens Position wiederum haben in Ansätzen zunächst Premierminister Boris Johnson in einer Rede am 3. Februar und zuletzt der britische Chefunterhändler David Frost am Montagabend in Brüssel vorgestellt. Demnach ist das Vereinigte Königreich nicht bereit, EU-Standards in aller Form zu übernehmen; man werde nach dem Austritt keinerlei "EU-Aufsicht" akzeptieren, ließ sich Frost vernehmen.[2] Johnson strebt ein Freihandelsabkommen nach dem Modell des Vertrages an, den die EU mit Kanada geschlossen hat.[3] Dabei ist London laut Auskunft von Frost durchaus bereit, sich auf "gemeinsame Niveaus" etwa beim Umweltschutz oder auch bei den Staatsbeihilfen zu einigen - aber auch nicht mehr: "Wie käme das bei Ihnen an", fragte Frost am Montag in Brüssel, "würde das Vereinigte Königreich fordern, dass die Europäische Union zu unserem Schutz eine dynamische Harmonisierung mit unseren in Westminster gemachten Gesetzen eingehen muss sowie mit unseren Aufsichtsbehörden und Gerichten?"[4] Sei die EU nicht bereit, sich auf eine derartige Vorgehensweise zu verständigen, dann werde Großbritannien Handelsbeziehungen anstreben, wie die Union sie mit Australien unterhalte, erklärte Johnson bereits am 3. Februar. Die EU und Australien treiben zur Zeit nach WTO-Regeln Handel, streben aber mittlerweile ein Freihandelsabkommen an.
Milliardeneinbußen
Warnungen vor einem Scheitern der Verhandlungen werden inzwischen vor allem in der deutschen Wirtschaft laut. Deutsche Exportunternehmen verzeichnen bereits jetzt aufgrund des stark gesunkenen Pfund-Kurses und wegen der allgemeinen Ungewissheit nach dem Brexit-Referendum erhebliche Einbußen im Handel mit Großbritannien. Die Exporte dorthin, die sich im Jahr 2015 noch auf über 89 Milliarden Euro beliefen - Platz drei in der Rangliste der Käufer deutscher Waren -, sanken auf weniger als 79 Milliarden Euro im vergangenen Jahr, während die Ausfuhren in die übrigen EU-Länder stiegen; das Vereinigte Königreich liegt in der deutschen Exportrangliste heute nur noch auf Platz fünf. Die brexitbedingten Einbußen haben die deutsche Wirtschaftsleistung laut Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin seit 2016 um ungefähr 0,8 Prozentpunkte weniger wachsen lassen, als es ohne das britische Austrittsreferendum möglich gewesen wäre.[5] DIW-Präsident Marcel Fratzscher beziffert die bisherigen Kosten des Brexits für die deutsche Wirtschaft auf rund zehn Milliarden Euro pro Jahr.[6] Das DIW dringt mit Blick auf die bisherigen Brexit-Einbußen auf eine Einigung mit Großbritannien bis Jahresende. Bleibe sie aus, dann sei nicht nur mit einer "geringeren heimischen Produktion und dem Wegfall eines Teils der Exporte ins Vereinigte Königreich" zu rechnen, sondern auch mit ernsten Einbußen bei der Ausfuhr in Drittstaaten. Ein Brexit ohne einvernehmliches Abkommen werde das deutsche Wachstum im Jahr 2021 um wohl 0,6 Prozentpunkte senken, prognostiziert das DIW. Das wöge schwer: Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) sagt für dieses Jahr ein Wirtschaftswachstum von nur 0,7 Prozent voraus.
Frankfurter Wunschszenarien
Hat der Brexit der deutschen Wirtschaft insgesamt bereits deutlich geschadet, so haben sich die auf ihm beruhenden Hoffnungen der deutschen Finanzbranche kaum erfüllt. In den Jahren 2016 und 2017 kursierten - befeuert von PR-Organisationen der hessischen Bankenbranche - Vorhersagen, es werde durch den britischen EU-Austritt zu einer massiven Verlagerung von Arbeitsplätzen in der Finanzbranche nach Frankfurt am Main kommen. So hieß es etwa in einer im Sommer 2017 publizierten Studie, London werde 10.000 Finanzarbeitsplätze an Frankfurt verlieren; in der Rhein-Main-Region sei, da Finanzangestellte eine rege Nachfrage in anderen Branchen hervorriefen, mit zusätzlichen 36.000 ("vorsichtiges Szenario"), vielleicht gar 88.000 ("optimistisches Szenario") Arbeitsplätzen außerhalb des Finanzsektors zu rechnen. Allein Frankfurt am Main könne dabei auf zusätzliche Einnahmen aus den anfallenden Steuern in Höhe von 136 bis 191 Millionen Euro pro Jahr hoffen.[7] Andere Institute, etwa die Landesbank Hessen-Thüringen (Helaba), gingen von einem Stellenzuwachs in einer Größenordnung von immerhin 8.000 Arbeitsplätzen aus.
Kein Bankenboom
Eine aktuelle Bestandsaufnahme ergibt ein deutlich anderes Bild. So haben zwar eine ganze Reihe von Finanzinstituten eine neue Präsenz in Frankfurt am Main errichtet oder bestehende Präsenzen aufgestockt - oft, weil Finanzgeschäfte innerhalb der EU nur von einem EU-Standort aus getätigt werden dürfen. Bis Ende August 2019 hatten 31 Finanzunternehmen deshalb eine neue Präsenz in Frankfurt geschaffen, deutlich mehr als in Paris (elf), in Dublin und Luxemburg (je neun) und in Amsterdam (fünf).[8] Allerdings beschränkt sich der Stellenzuwachs bislang auf lediglich 1.500 Finanzarbeitsplätze, gerade einmal ein Sechstel der ursprünglich prognostizierten Zahl. Zwar sind PR-Stellen der Frankfurter Banken optimistisch, dass bis Ende 2021 noch rund 2.000 weitere Stellen hinzukommen; doch räumt beispielsweise die Helaba ein, dass dies den Stellenabbau bei den deutschen Großbanken kaum ausgleichen wird: Demnach wird Frankfurt Ende 2021 dank des erhofften Brexit-Zuwachses 64.500 Finanzjobs aufweisen - lediglich 600 mehr als Ende 2018, bei anschließend deutlich fallender Tendenz. Zum Vergleich: Die Zahl der Finanzarbeitsplätze in London wird auf rund 380.000 beziffert.[9] Damit erweist sich, während die Wirtschaft insgesamt Einbußen hinnehmen muss, auch der lange propagierte Hoffnungsschimmer in der deutschen Finanzbranche als trügerisch (german-foreign-policy.com berichtete [10]).
[1] Jochen Buchsteiner, Thomas Gutschker, Hendrik Kafsack: London und Brüssel im Fernduell. Frankfurter Allgemeine Zeitung 04.02.2020.
[2] Jochen Buchsteiner: Genau das ist der Punkt. Frankfurter Allgemeine Zeitung 19.02.2020.
[3] PM speech in Greenwich: 3 February 2020. gov.uk 03.02.2020.
[4] Jochen Buchsteiner: Genau das ist der Punkt. Frankfurter Allgemeine Zeitung 19.02.2020.
[5] Geraldine Dany-Knedlik, Stefan Gebauer, Thore Schlaak: Nach dem Brexit kommt die Übergangsphase: Deutsche Wirtschaft leidet weiter unter Unsicherheit. DIW aktuell Nr. 26. 30. Januar 2020.
[6] Marcel Fratzscher: Wie der Brexit die deutsche Wirtschaft belastet. DIW Wochenbericht Nr. 6/2020.
[7] Matthias Goldschmidt: Studie prognostiziert nach Brexit starken Jobaufbau in Frankfurt. finanzen.ch 25.08.2017.
[8] Helaba: Finanzplatz Frankfurt. Mehr als Brexit. Frankfurt am Main, Oktober 2019.
[9] Rolf Obertreis: Frankfurt hat den Standort-Wettbewerb um Brexit-Banken gewonnen. tagesspiegel.de 27.01.2020.
[10] S. dazu Kein Brexit-Bankenboom.
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Die geheimdienstliche Formierung der EU mit dem deutschen BND German-foreign-policy, 18. Februar 2020
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8190/
Operationen von BND und Crypto AG für das föderale Europa. Schweiz als Tummelplatz der BRD- und US-Geheimdienste
BERLIN/BERN/WASHINGTON Die Aufklärung der kriminellen Aktivitäten des deutschen Spionagedienstes BND gegen dutzende UN-Mitgliedsstaaten und internationale Organisationen mittels der Schweizer Crypto AG wird in der Bundesrepublik verschleppt. Parlamentarische Wortmeldungen gehen in Berlin in zeitzehrenden Anfrageverfahren unter. Während die Schweizer Regierung einen Sonderermittler eingesetzt hat, hüllen sich die deutschen Anstifter in Schweigen. Gemeinsam mit der CIA sind sie für die Ausforschung angeblich befreundeter Staaten mit betrügerischen Dechiffriermaschinen verantwortlich. An den illegalen Operationen ist offenbar der Münchener Siemens-Konzern beteiligt, dessen Beziehungen zum BND legendär sind. Die Verschleppung der Aufklärung nimmt auf strategische Interessen Rücksicht, um die Berlin und Washington konkurrieren. Die taktische Kooperation von BND und CIA geht auf die Nachkriegszeit zurück und hat den BND zu einem Instrument bei der geheimdienstlichen Formierung der EU werden lassen - mit der Crypto AG.
Krimineller Kern
Die als sensationell angekündigten Enthüllungen über den systematischen Betrug mit der Crypto AG und "Rubikon", einer jahrzehntelangen deutsch-amerikanischen Geheimdienstoperation gegen fast sämtliche UN-Mitglieder [1], zeigen auch eine Woche nach Veröffentlichung in der Bundesrepublik keinerlei institutionelle Folgen. Es sei zu klären, "ob die parlamentarische Kontrolle vorsätzlich über rund zwei Jahrzehnte umgangen wurde", heißt es über eine Anfrage der Opposition im Bundestag [2] - nachdem die vorsätzliche Umgehung in den Medienveröffentlichungen längst nachgewiesen wurde und nicht die Form, sondern der kriminelle Inhalt Kern der Enthüllungen ist. Während der belgische Militärgeheimdienst SGRS öffentlich ankündigt, Untersuchungen anzustellen, lehnt der deutsche Anstifter BND jegliche Stellungnahme ab.[3]
Lizenzproduktion
Der BND verheimlicht, dass die auf 1970 datierte Kaufübernahme der Crypto AG durch BND und CIA die Crypto-Geschäfte, die im Dreieck Washington-Bern-Bonn seit geraumer Zeit stattfanden, lediglich fortschrieb, aber nicht begründete. Bereits in den 1950er Jahren unterhielt die westdeutsche Auslandsspionage ("Organisation Gehlen", ab 1956 BND) beste Beziehungen zur Crypto AG. In Westdeutschland kamen in diesem Zeitraum etwa 10.000 Dechiffriermaschinen des Unternehmens zum Einsatz. Die in der Schweiz angesiedelte Crypto AG erteilte eine Lizenz - in der Bundesrepublik fand die Produktion unter Aufsicht der in München stationierten deutschen Agenten mit NS- und SS-Herkunft statt. Es war das zweite Mal, dass Dechiffrierprodukte des Erfinders Boris Hagelin, formell Eigentümer der Crypto AG, auf deutschem Territorium nachgebaut wurden - zum ersten Mal in den Kriegsjahren, als die Wanderer-Werke in Chemnitz einen Dechiffriertyp mit der Serien-Bezeichnung C 41 herausbrachten; ob illegal, geht aus Hagelins Aufzeichnungen nicht hervor.[4]
US-Nachkriegsszenario
Während der Nazi-Zeit hatte Hagelin, eigentlich schwedischer Staatsbürger, die US-Geheimdienste mit Großauflagen seiner Erfindungen beliefert. Unter Aufsicht von Hagelin, der in die USA übersiedelte und dort als technischer Berater fungierte, wurden über 140.000 Dechiffriermaschinen seiner Baureihe M-209 für die US-Armee produziert. Bei Kriegsende folgte Hagelin seinen Auftraggebern zurück nach Europa, wo sich der CIA-Vorläufer OSS (Office of Strategic Services) in der Schweizer Hauptstadt auf die deutsche Kapitulation und politische Neuordnung des Kontinents vorbereitete. In einer unauffälligen Parterrewohnung (Bern, Herrengasse 23) ordnete der US-Resident und spätere CIA-Direktor Allen Dulles seit 1942 die klandestinen Kontakte zu Widerstandsbewegungen im deutsch okkupierten Westeuropa. Es war daher naheliegend, den Agentenzulieferer Hagelin ebenfalls in der Schweiz zu dislozieren und ihn in das US-Nachkriegsszenario einzubinden.
"Freies Europa"
Hagelins neue Adresse war von der Herrengasse nur zwei Autostunden entfernt - in der Schweizer Gemeinde Zug. Während Hagelin den Ortswechsel vorbereitete, um dort die Crypto AG zu gründen, startete die Berner US-Residentur eine Europa-Kampagne, die in einem Feuerwerk geheimdienstlich finanzierter Kongresse für die "Vereinigten Staaten von Europa" kulminierte, so 1946 in Hertenstein (Hagelins neuer Adresse direkt benachbart), 1947 in Montreux. Aufgabe der entstehenden US-Europa-Organisationen ("Europäische Union der Föderalisten", UEF) war die Unterwanderung nationalstaatlicher Strukturen im gerade befreiten Europa durch inszenierte Massenbewegungen.[5] Jugendorganisationen wie die "European Youth Campaign" wurden von US-Agenten mit monatlichen Schecks finanziert [6], um spontane Aktionen an den französischen Grenzanlagen vorzutäuschen ("Weg mit den Schlagbäumen - freies Europa").
Unter Beobachtung
Die von Dulles gesteuerten aggressiven US-Geheimdienst-Kampagnen, die einen großeuropäischen Wirtschaftsraum unter militärischer Oberhoheit der USA vorbereiten sollten, trafen in Paris, aber auch in London auf die Traditions- und Souveränitätsansprüche der heimischen Herrschaftszirkel. Ihre Bedenken galten Washington als lästig. Sie wurden ebenso unter CIA-Beobachtung gestellt wie die dissidenten Teile der westeuropäischen Gewerkschaftsbewegung.[7] Dies war der Zeitpunkt, um Hagelins Arbeit in vollem Umfang zur Geltung zu bringen und die verdeckten Europa-Operationen mit den Instrumenten der Crypto AG im schweizerischen Zug zu maximieren: Einschleusung manipulierter Dechiffriermaschinen in die diplomatischen und militärischen Kanäle der vertrauensvollen Käufer, deren Botschaften bei Crypto mitgelesen werden konnten - darunter der Schriftverkehr von Verbündeten. Was noch fehlte, waren die operativen Gehilfen.
Reiseroute "Rubikon"
Die nationalen Geheimdienste in Paris, London, Rom oder Brüssel kamen dafür nur bedingt in Frage, da sie in Widerspruch zu Teilen ihrer eigenen Regierungen geraten wären - zu den konservativen Herrschaftszirkeln ohne "Europa"-Begeisterung. Dulles, die CIA und ihre politischen Regisseure [8] griffen deswegen auf Helfer zurück, die zuverlässig und in jeder Hinsicht kontrollierbar erschienen - auf die die "Organisation Gehlen", den späteren BND. Die wegen unzähliger Verbrechen belasteten Agenten aus den Führungskreisen der ehemaligen NS-Abwehr waren erpressbar und auf die vollständige Deckung der US-Schutzmacht angewiesen. Ihre bayerische Operationsbasis in München-Pullach mit technischer Anbindung an den ebenfalls in München tätigen Siemens-Konzern eignete sich hervorragend für den logistischen Austausch mit der Crypto AG im Schweizerischen Zug. Crypto AG und BND etablierten, teils wöchentlich, teils täglich, die Reiseroute "Rubikon".
Traumziel Großeuropa
Unter den wachsamen Augen des Schweizer Staatsschutzes war das Schweizer Staatsgebiet zum Tummelplatz systematischer Agententätigkeit deutsch-amerikanischer Operationen geworden.[9] Bis etwa 1956 als CIA-Subunternehmer, dann auf eigene Kosten, sorgte die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Geheimdienst BND und der Crypto AG für die kriminelle Ausforschung, Durchdringung und Neutralisierung des politischen Widerstands in den westeuropäischen Nachbarstaaten: für Großeuropa - das Traumziel deutscher Geopolitik seit Kaiser Wilhelm II. bis Adolf Hitler.
[1] S. dazu Ausspähen unter Freunden (II).
[2] Crypto AG - Ein Spionagethriller holt Deutschland ein. Süddeutsche Zeitung 12.02.2020.
[3] Belgien war Kunde bei der Crypto AG - war es auch Opfer? Grenzecho 14.02.2020.
[4] Boris Hagelin: The Story of the Hagelin-Cryptos. 3E 720. Hrg. Crypto AG o.J.
[5] Vgl. Hans-Rüdiger Minow: Zwei Wege - eine Katastrophe. Flugschrift No. 1. german-foreign-policy.com 2016. S. 23ff.
[6] Vgl. Euro-federalists financed by US spy chiefs. Daily Telegraph 19.09.2000.
[7], [8] Richard J. Aldrich: OSS, CIA and European Unity: The American Committee on United Europe, 1948-60. In: Diplomacy & Statecraft, Vol.8 (March 1997). S. 184-227.
[9] "Die zur Diskussion stehenden Ereignisse nahmen 1945 ihren Anfang und sind heute schwierig zu rekonstruieren und zu interpretieren", teilte das Schweizer Vereidigungsministerium der Deutschen Presse-Agentur in Wien mit. Die Welt 12.02.2020.
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Griff nach der Bombe German-foreign-policy, 6. Februar 2020
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8178/
Deutsche Politiker fordern Zugriff auf die französischen Nuklearstreitkräfte. Auch "nukleare Teilhabe" soll bestehen bleiben
BERLIN - Mit einigem Unmut reagiert Paris auf die erneute Forderung aus Berlin, die französischen Nuklearstreitkräfte einem gemeinsamen EU-Kommando zu unterstellen. Der entsprechende Vorstoß des stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Johann Wadephul sei bereits "im Keim erstickt", heißt es in Kommentaren; einflussreiche Militärs urteilen, eine Realisierung des deutschen Ansinnens sei auf absehbare Zeit "undenkbar". Berliner Politiker und Regierungsberater dringen seit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten verstärkt darauf, Zugriff auf die französische Force de frappe zu erhalten. Alternativ ist punktuell auch eine "deutsche Bombe" im Gespräch. Hatte die Bundesrepublik in ihren frühen Jahren durchgängig Nuklearwaffen in nationaler Verfügungsgewalt gewünscht, so ist ein "europäischer" Zugriff im Gespräch, seit sich die EU in den frühen 2000er Jahren in einer Phase des schnellen Ausbaus einer gemeinsamen Militärpolitik zu befinden schien. Parallel bereitet Berlin den Erwerb neuer Kampfjets für den etwaigen Abwurf von US-Atombomben ("nukleare Teilhabe") vor.
"Unter dem Kommando der EU"
Die erneute Diskussion um einen deutschen Zugriff auf die französischen Nuklearstreitkräfte hatte zu Wochenbeginn Johann Wadephul gestartet, der für die Außen- und Militärpolitik zuständige stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Wadephul hatte verlangt, die Bundesrepublik müsse "eine Zusammenarbeit mit Frankreich bei den Nuklearwaffen ins Auge fassen".[1] Es sei "Realität, dass wir eine atomare Abschreckung benötigen"; daher sei es "in deutschem Interesse, dass wir auf die nukleare Strategie Einfluss nehmen können, die uns schützt". Deutschland müsse "bereit sein, sich mit eigenen Fähigkeiten und Mitteln an dieser nuklearen Abschreckung zu beteiligen". Frankreich solle im Gegenzug seine Atomwaffen "unter ein gemeinsames Kommando der EU oder der Nato stellen". Der französische Präsident Emmanuel Macron, der "uns mehrfach aufgefordert" habe, "mehr Europa zu wagen", könne "nun zeigen, dass auch er dazu bereit ist", ließ sich Wadephul zitieren. Mit welchen "eigenen Mitteln" sich die Bundesrepublik an der "nuklearen Abschreckung" beteiligen soll, erläuterte der CDU-Politiker nicht.
Von der nationalen zur "europäischen" Bombe
Das Streben der bundesdeutschen Eliten, zur Atommacht zu werden oder sich ersatzweise Zugriff auf die Nuklearstreitkräfte Frankreichs zu verschaffen, ist alt. Schon in den 1950er Jahren sprachen sich führende Bonner Politiker, darunter Bundeskanzler Konrad Adenauer und Verteidigungsminister Franz Josef Strauß, prinzipiell für eine "deutsche Bombe" aus (german-foreign-policy.com berichtete [2]). Den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnete die Bundesregierung widerstrebend erst am 28. November 1969; für die Ratifizierung ließ Bonn sich ebenfalls viel Zeit - bis zum 2. Mai 1975. In den frühen 2000er Jahren, als sich die EU in einer Phase des schnellen Ausbaus einer gemeinsamen Militärpolitik zu befinden schien, nahmen Außenpolitiker und Regierungsberater in Berlin den deutschen Zugriff auf Atomwaffen erneut ins Visier - jetzt in Form einer Schaffung "vergemeinschafteter europäischer Nuklearstreitkräfte".[3] In einem deutschen Strategiepapier wurde im Jahr 2003 der Aufbau "Vereinter Europäischer Strategischer Streitkräfte" erwogen, "die sich unter einem gemeinsamen europäischen Oberkommando des Atomwaffenpotenzials Frankreichs und Großbritanniens bedienen können".[4] "Die Supermacht Europa", hieß es dazu, "bedient sich uneingeschränkt der Mittel internationaler Machtpolitik."
Der "europäische Nuklearschild"
Mit Nachdruck fordern deutsche Außenpolitiker, Regierungsberater und Publizisten den deutschen Zugriff auf Atomwaffen seit der Wahl von US-Präsident Donald Trump. "Berlin wird es in Betracht ziehen müssen, einen europäischen Nuklearschild zu entwickeln, der auf französischen und britischen Fähigkeiten basiert", erklärte der Direktor des Berliner Global Public Policy Institute, Thorsten Benner, Mitte November 2016.[5] Zahlreiche ähnliche Äußerungen folgten.[6] Stets heißt es zur Begründung, man benötige einen Nuklearschirm und könne sich auf denjenigen der USA nicht mehr verlassen. Dabei werden vor allem zwei Varianten diskutiert. Eine läuft darauf hinaus, eigene Atomwaffen zu bauen; dabei ist von einer "Atommacht Deutschland" die Rede (german-foreign-policy.com berichtete [7]). Eine zweite sieht die Nutzung der französischen Force de frappe mit unterschiedlichen Graden der Einflussnahme vor. Die Optionen reichen von einer deutschen Kofinanzierung der französischen Nuklearstreitkräfte, die mit einem gewissen Grad an direktem Einfluss verbunden wäre, bis zur Unterstellung der Waffensysteme "unter ein gemeinsames Kommando der EU", wie sie Wadephul jetzt verlangt.
Ein klares Nein
In Frankreich ruft das erneute deutsche Drängen in Sachen Nuklearstreitkräfte erheblichen Unmut hervor. Paris hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass es seine alleinige Kontrolle über seine Atomwaffen nicht preisgeben wird. Ende 2018 stellte Bruno Tertrais, stellvertretender Direktor der Fondation pour la recherche stratégique aus Paris, in der führenden Fachzeitschrift der deutschen Außenpolitik exemplarisch fest, Frankreichs Regierung werde "keine gemeinsamen europäischen Nuklearstreitkräfte unter Führung der EU" zulassen; auch sei es "unrealistisch" anzunehmen, "dass die europäischen Partner die französischen Streitkräfte mitfinanzieren" könnten, um "im Gegenzug ein Mitspracherecht in der französischen Sicherheitspolitik" zu erlangen.[8] Zu dem penetranten Berliner Insistieren urteilen jetzt französische Kommentatoren, Wadephuls Vorstoß sei schon "im Keim erstickt".[9] Der einflussreiche General a.D. Vincent Desportes bekräftigt, die Entscheidung über den französischen Nuklearschild werde nicht "geteilt"; eine Verwirklichung des deutschen Ansinnens sei auf absehbare Zeit "undenkbar".[10] Auch Corentin Brustlein, Direktor des Centre des études de sécurité am Institut français des relations internationales (ifri) in Paris, bestätigt, es gebe "auf politischer Ebene keinerlei Bereitschaft, die Entscheidungsgewalt über den Einsatz von Atomwaffen zu teilen".[11] Ausdrücklich wird auf die Rede zur französischen Nukleardoktrin verwiesen, die Präsident Emmanuel Macron am morgigen Freitag halten will.
US-Atombomben
Mit Blick auf die Weigerung Frankreichs, sich den anmaßenden deutschen Forderungen zu öffnen, dringt Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer darauf, an der sogenannten nuklearen Teilhabe in Form von US-Atombomben, die auf dem Fliegerhorst Büchel in der Eifel gelagert sind, festzuhalten. In Büchel befinden sich 20 Bomben des Typs B61. Sie sollen perspektivisch durch deren Nachfolgemodell B61-12 ersetzt werden.[12] Über ihrem Ziel abgeworfen würden sie bei Bedarf von Tornados der deutschen Luftwaffe. Deutschland solle "weiterhin seinen Beitrag im Rahmen der nuklearen Teilhabe leisten", bekräftigte Kramp-Karrenbauer am Montag.[13]
Milliardensummen
Die Entscheidung zur "nuklearen Teilhabe" hat kostspielige Folgen - denn die Tornados, die in Büchel stationiert sind, müssen in wenigen Jahren wegen ihres Alters ausgemustert werden. Noch für dieses Quartal hat Berlin die Entscheidung darüber angekündigt, welcher Kampfjet die für die "nukleare Teilhabe" genutzten Tornados ablösen soll. Als Favorit galt zuletzt ein US-Flugzeug - die F/A-18, die vom US-Konzern Boeing hergestellt wird.[14] Im Gespräch ist aktuell der Kauf von rund 40 F/A-18-Jets. Der Preis: mehrere Milliarden Euro.
[1] Hans Monath: "Wir sollten uns an nuklearer Abschreckung beteiligen". tagesspiegel.de 02.02.2020.
[2] S. dazu Griff nach der Bombe.
[3] S. dazu Hintergrundbericht: Atombomben für Deutsch-Europa.
[4] S. dazu "Untergang oder Aufstieg zur Weltmacht?"
[5] S. dazu Make Europe great again.
[6] S. dazu Der Schock als Chance und Griff nach der Bombe.
[7] S. dazu Die deutsche Bombe.
[8] Bruno Tertrais: Europas nukleare Frage. Internationale Politik, November/Dezember 2018. S. 108-115.
[9] Pierre Avril: Berlin défie Paris sur le dossier nucléaire. lefigaro.fr 04.02.2020.
[10] Thomas Romanacce: Un député allemand veut que la France partage ses armes nucléaires avec l'Allemagne. capital.fr 04.02.2020.
[11] Georg Ismar, Albrecht Meier: SPD will keine Beteiligung an "nuklearem Wettrüsten". tagesspiegel.de 03.02.2020.
[12] S. dazu Deutschlands Beitrag zur Bombe.
[13] Georg Ismar, Albrecht Meier: SPD will keine Beteiligung an "nuklearem Wettrüsten". tagesspiegel.de 03.02.2020.
[14] S. dazu Europas Kriegsautonomie.
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SOZIALE UNGLEICHHEIT DURCH DIREKTE DEMOKRATIE? Die Geschichte einer Wanderlegende
von Dr. Edgar Wunder
Politische Beteiligung ist fast immer sozial verzerrt, egal ob bei Wahlen oder in Bürgerinitiativen. Sozial Bessergestellte besitzen mehr Ressourcen, um sich zu beteiligen. Sozial marginalisierte Menschen werden hingegen zu großen Teilen apathisch und beteiligen sich nicht mehr. Seit der 1933 erschienenen Marienthal-Studie ist das ein immer wieder bestätigter Befund. Das Ausmaß dieser „sozialen Selektivität“ ist aber unterschiedlich je nach Beteiligungsform. Ob bei Bürgerentscheiden und Volksabstimmungen die soziale Verzerrung stärker oder schwächer ist als bei Wahlen, war bis vor kurzem in Deutschland noch nie Gegenstand einer systematischen empirischen Untersuchung. Die Forschungslücke schließt nun eine im Herbst 2019 publizierte Studie von Angelika Vetter und Jan Velimsky von der Universität Stuttgart (Politische Vierteljahresschrift 60, 487-512).
Die Befunde der Studie sind für Mehr Demokratie auch deshalb bedeutsam, weil sie ein in den letzten Jahren oft angeführtes Argument gegen den Ausbau direkt-demokratischer Instrumente als unrichtig entkräften. Im Anschluss an den Hamburger Volksentscheid 2010, bei dem eine geplante Schulreform abgelehnt wurde, behauptete der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel, Schuld sei eine besonders hohe soziale Selektivität bei direkt-demokratischen Abstimmungen. Einziger Anhaltspunkt dafür war eine geringere Beteiligung in „sozial schwachen“ Stadtteilen –ein Effekt der aber auch bei Wahlen auftritt. Merkel versäumte eine empirische Überprüfung seiner Annahme. Eine von mir durchgeführte Hochrechnung unter der Annahme, dass die Abstimmungsbeteiligung in allen Stadtteilen gleich gewesen wäre, hätte gezeigt: Auch in diesem Fall wäre die Hamburger Schulreform mehrheitlich abgelehnt worden –soziale Selektivität kann dafür also nicht verantwortlich gemacht werden.
Dennoch behauptete Merkel (2011) kurzerhand: „Volksabstimmungen verstärken die Tendenz der Überrepräsentation jener gut situierter Schichten, die schon in den Organisationen und Institutionen der repräsentativen Demokratie überproportional vertreten sind.“ Die Interessen „des unteren Drittels unserer Gesellschaft“ seien deshalb „in repräsentativen Institutionen besser aufgehoben als in Entscheidungen, die ‚das Volk‘ trifft.“ Bei einem Ausbau direkt-demokratischer Instrumente würde „der schleichende Ausschluss der unteren Schichten noch erheblich beschleunigt“. Obwohl ohne jeden empirischen Beleg, wurden diese Behauptungen von Gegnern direkt-demokratischer Verfahren rasch aufgegriffen und als vermeintlich gesichertes Wissen im Sinne einer Wanderlegende immer weiter verbreitet.
Vetter & Velimsky (2019) haben nun für sämtliche 56 Bürger- und Volksentscheide, die es im Zeitraum 2000-2017 in deutschen Großstädten gab, das Ausmaß sozialer Selektivität quantifiziert und mit der sozialen Selektivität bei Kommunalwahlen in diesen Städten verglichen. Dazu untersuchten sie kleinräumig differenziert die Arbeitslosenquote, das Bildungsniveau und das Durchschnittseinkommen in den Orts- und Stadtteilen aller Städte und prüften eventuelle Zusammenhänge mit der Beteiligung bei Wahlen und Abstimmungen. Das Ergebnis: Die soziale Verzerrung zu Ungunsten der „unteren Schichten“ ist bei Wahlen signifikant stärker als bei Bürger- und Volksentscheiden. Also genau das Gegenteil dessen, was Merkel behauptet hatte.
Daraus kann die politische Schlussfolgerung gezogen werden: Wer der problematischen sozialen Polarisierung unserer Gesellschaft entgegen treten will, der sollte direkt-demokratische Instrumente stärker ausbauen. Denn die Teilnahme an Wahlen ist stärker zugunsten der „oberen“ Schichten verzerrt als die Teilnahme an Bürger- und Volksentscheiden.
Einen wichtigen Punkt übersahen aber auch Vetter & Velimsky (2019). Wer den sozialen Bias von Politik-Ergebnissen in parlamentarischen vs. direktdemokratischen Verfahren miteinander vergleichen will, der muss die soziale Zusammensetzung der jeweiligen Entscheider miteinander vergleichen. Beim Bürger- und Volksentscheid sind die Entscheider der Sachfrage die Stimmbürgerinnen und -bürger. Im parlamentarischen Verfahren sind die Entscheider der Sachfrage die Abgeordneten bzw. Stadträte, jedoch nicht etwa deren Wählerinnen und Wähler. Ein korrekter Vergleich müsste also die soziale Zusammensetzung von Abgeordneten und Stadträten mit der sozialen Zusammensetzung der Abstimmenden bei Bürger- und Volksentscheiden vergleichen. Denn die unhinterfragte Vorstellung, die Interessenlage von Abgeordneten sei identisch mit der Interessenlage von deren Wählenden, kann nur als naiv bezeichnet werden. Die Idee der politischen Repräsentation ist insofern eine Fiktion. Daraus folgt: Bei ausnahmslos allen Bürger- und Volksentscheiden dürfte das Ausmaß der sozialen Verzerrung unter den Entscheidern ganz erheblich geringer gewesen sein als bei wirklich jeder parlamentarischen Entscheidung. Wie massiv Parlamentsentscheide zugunsten der Interessen der sozial Bessergestellten verzerrt sind, hat einer von Merkels eigenen Schülern, Armin Schäfer, in einer anderen Veröffentlichung selbst aufgezeigt.
Fazit: Wer direktdemokratische Verfahren wegen „sozialer Selektivität“ ablehnt, ist einer haltlosen Wanderlegende aufgesessen. Es ist wissenschaftssoziologisch interessant, wie sich solche empirisch ungeprüften Spekulationen in den letzten zehn Jahren im Wissenschafts- und Politikbetrieb verbreiten konnten und wie unkritisch sie aufgenommen wurden. Offenbar reichte dafür aus, dass ein bekannter Professor für Politikwissenschaft die Behauptung aufstellte, sie publikumswirksam verbreitete und es eine Nachfrage nach einem derartigen (Pseudo-)Argument unter Ablehnern von Volksabstimmungen gab. mdmagazin, Zeitschrift für direkte Demokratie, Ausgabe 2.2020, www.mehr-demokratie.de
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Tirol/EU-Transitpolitik: „Zwei Jahrzehnte gebrochener Vereinbarungen“ Die EU-Verkehrskommissarin Adina Valean ließ Mitte Februar bei den Gesprächen wegen des explodierenden Transitverkehrs in Tirol aufhorchen: Wenn Österreich bei den Maßnahmen gegen den Transitverkehr nicht nachgebe, „könne es ja aus dem EU-Binnenmarkt aussteigen.“ Ein Blick in die Schweiz zeigt, dass das eine gute Idee ist.
Der sog. „freie Warenverkehr“ gehört bekanntlich zu den Heiligtümern des EU-Binnenmarktes. Die Folge: Seit dem EU-Beitritt hat sich in Österreich der grenzüberschreitende Güterverkehr auf der Straße verdreifacht. Seit dem Jahr 2000 ist der Transitverkehr am Brenner um 50% gestiegen, in der Schweiz ist er dagegen um ein Drittel zurückgegangen (sh. Grafik oben). Das ist auch in absoluten Zahlen gewaltig: Im Jahr 2000 fuhren über die Schweizer Alpenübergänge mit 1,4 Millionen LKWs fast gleich viele wie über den Brenner mit 1,56 Millionen. Doch während in der Schweiz die Zahl der LKWs um 460.000 auf 941.000 im Vorjahr gesunken ist, nahm die Lkw-Belastung über den Brenner um rund 860.000 auf über 2,4 Millionen zu. Im Vorjahr fuhren erstmals über den Brenner mehr LKWs als über die vier Schweizer und zwei französischen Alpenübergänge zusammen (Quelle: www.vcoe.at, 2019)
Transit: Brenner plus 54%, Schweiz minus 33%
Der Hintergrund dieser ungleichen Entwicklung: Aufgrund dessen, dass die Schweiz nicht bei der EU bzw. beim EU-Binnenmarkt ist, hat die Politik dort größere Möglichkeiten, Einschränkungen durchzusetzen: z.B. durch eine hohe LKW-Maut auf allen Straßen, in die auch externe Kosten, wie z.B. Gesundheitsschäden, Unfallkosten – eingerechnet werden. Mit den Einnahmen wird der Eisenbahnverkehr entschlossen ausgebaut. Zwar sieht auch die EU-Wegekosten-Richtlinie mittlerweile die Möglichkeit vor, externe Kosten in eine LKW-Maut einzurechnen. Doch von Kostenwahrheit ist das meilenweit entfernt. Gemäß den Berechnungen des Schweizer Statistikamtes (2014) verursachen schwere Gütertransporte externe Kosten für Umwelt, Gesundheit und Gesellschaft von 7 Cent pro Tonnenkilometer. Das entspricht ganzen 2,8 Euro pro Kilometer für einen 40t-Sattelzug. Aufgrund der aktuellen Vorgaben der EU-Wegekostenrichtlinie dürfen jedoch höchstens 8,64 Cent pro Kilometer bei Berechnung der Maut angesetzt werden. Das entspricht nicht einmal 3 Prozent der auf die Gesellschaft abgewälzten Kosten des Verkehrs.
„Hosen weit runtergelassen“
Zwei Mal wurden sektorale Fahrverbote in Tirol von der EU-Kommission bzw. EuGH aufgehoben. Das 2016 erlassene sektorale Fahrverbot wurde zwar schließlich von der EU akzeptiert, allerdings wurde vorher so viel Druck auf die Landesregierung ausgeübt, dass dieses Fahrverbot so lasch ausgefallen ist, dass es kaum eine Wirkung zeigt. „Die Tiroler Landesregierung hat die Hosen weit runtergelassen. Wenn sie so viele Zugeständnisse gemacht hat, ist das Fahrverbot kein Problem mehr.“ (https://www.tageszeitung.it, 17.2.2017), höhnte Elmar Morandell, Großfrächter und Obmann der Berufsgemeinschaft der Warentransporteure, über die schwarz-grüne Landesregierung. Die Frächterlobby weiß, was sie an der EU-Kommission hat.
„Am Rande des Kollaps“
Zuletzt hat die Tiroler Landesregierung diese Fahrverbote wieder verschärft, da „der Transitverkehr am Rande des Kollaps steht“ (O-Ton Verkehrsministerin Gewessler). Prompt verlangte die EU-Kommissarin als Gegenleistung für eine Korridormaut die Aufhebung dieser sektoralen Fahrverbote. Da platzte selbst dem Tiroler Landeshauptmann Platter der Kragen: Tirol werde von der EU „seit über 20 Jahre von einer gebrochenen Vereinbarung zur nächsten vertröstet“ (ORF-Tirol, 20.2.2020). Danke für diese Klarstellung, die man sonst kaum jemals von österreichischen PolitikerInnen hört. Freilich vergisst der Hr. Landeshauptmann dabei zu erwähnen, dass davor die österreichischen Regierungsparteien die Bevölkerung über den Tisch gezogen haben, als sie beim EU-Beitritt – trotz gegenteiliger Bundes- und Landesregierungs- und -parlamentsbeschlüssen – die LKW-Obergrenzen fallen ließen und mit dem „Transitvertrag“ den Menschen eine dreiste Mogelpackung servierten, um sie für ein „Ja“ bei der Volksabstimmung zu ködern.
„Freier Warenverkehr“ contra Klimaschutz und Gesundheit
Der EU-Binnenmarkt mit seinem Dogma des „freien Warenverkehrs“ steht in völligem Widerspruch zu den klimapolitischen Herausforderungen, vor denen wir stehen. Dieses neoliberale EU-Dogma führt zu solchen Irrsinnigkeiten, dass Österreich in etwa gleich viel Fleischprodukte exportiert wie importiert, gleich viel Milch und Molkereiprodukte exportiert wie importiert, gleich viel Zucker- und Zuckerprodukte exportiert wie importiert (sh. Statistik-Austria für 2017/18). Die Leidtragenden des dadurch explodierenden Güterverkehrs sind klimapolitisch wir alle und gesundheitlich insbesondere die Menschen entlang der Transitrouten.
Sagen wir freundlich „Servus“!
Wenn Landeshauptmann Platter in Richtung Brüssel meckert, es könne „einfach nicht sein, dass ein Nicht-EU-Land wie die Schweiz bessergestellt ist als Österreich“, dann muss man ihm einfach sagen: Doch, das kann es! Die Zahlen, wie unterschiedlich sich der Transitverkehr in Österreich bzw. der Schweiz entwickelt hat, sprechen eine eindeutige Sprache. Und daraus müssen wir die Konsequenzen ziehen. Statt sich noch weitere Jahrzehnte von der EU-Kommission mit gebrochenen Vereinbarungen vertrösten zu lassen, gilt es den Vorschlag von EU-Kommissarin Valean, Österreich könne ja den EU-Binnenmarkt verlassen, selbstbewusst aufzugreifen und sich mit einem freundlichen „Servus“ den neoliberalen EU-Verträgen und der Vormundschaft von EU-Kommission und EuGH zu entziehen. Damit würden wir die politische Freiheit zurückgewinnen, die Transitpolitik - und vieles andere mehr - demokratisch im Interesse der Mehrheit zu gestalten.
Nachsatz:
Laut Prognosen wird der Güterverkehr bis 2030 um weitere 30% ansteigen. Selbst die grüne Verkehrsministerin spricht von dieser Steigerung so, als ob es sich um ein Naturgesetz handelt. Um ein solches handelt es sich aber nur, wenn man politisch nicht über den Tellerrand des neoliberalen EU-Binnenmarktregimes hinaussehen kann. Ein Österreich außerhalb des EU-Binnenmarktes hätte gemeinsam mit der Schweiz eine starke Verhandlungsposition, um den alpenquerenden Transitverkehr einzudämmen und einen wesentlichen Beitrag zu leisten, eine klimafreundliche Gütertransportpolitik zu erzwingen - europaweit! So verändert man Europa in eine ökologische Richtung - und nicht durch den Kotau vor den EU-Binnenmarktsregeln und der EU-Kommission!
Gerald Oberansmayr, Solidarwerkstatt Linz, Februar 2020,
https://www.solidarwerkstatt.at/verkehr/eu-transitpolitik-zwei-jahrzehnte-gebrochener-vereinbarungen
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