Bildungsaustausch CH-EU Die Schweiz ist der gleichberechtigten Teilnahme an den Bildungs-, Berufsbildungs- und Jugendprogrammen der Europäischen Union einen entscheidenden Schritt näher gekommen. Das betreffende Abkommen mit der EU ist paraphiert worden und könnte nach Zustimmung von Bundesrat und Parlament 2011 in Kraft treten.
Die EU fördert seit langem mit mehreren Programmen Aufenthalte von Studierenden und Lehrlingen in anderen Mitgliedstaaten sowie die Zusammenarbeit im Bildungswesen überhaupt. Am «Erasmus»-Programm für Austausch unter den Hochschulen und an «Comett», der Pflege entsprechender Beziehungen mit der Wirtschaft, war die Schweiz in der ersten Hälfte der 1990er Jahre offiziell beteiligt. Nach dem Nein zum EWR war ein formeller Anschluss an die sich erweiternden Aktivitäten hingegen nicht mehr möglich. Die folgenden Verhandlungen über die bilateralen Abkommen der ersten Serie waren mit anderen Themen ausgelastet, und während der Aushandlung der Bilateralen II wollte Brüssel das laufende Bildungsprogramm nicht öffnen. Im Beschluss über die Periode 2007-13 sah die EU diese Eventualität jedoch vor, und im April 2008 konnten die Verhandlungen beginnen.
Nach Auskunft von Verena Weber, der Leiterin der Verhandlungen, gab es in der Hauptsache kaum Differenzen. Bei der Festlegung der Beiträge (total 77 Millionen Franken für drei Jahre) orientierte man sich an Norwegen und anderen vergleichbaren Ländern. Sollte sich die Ratifikation des Abkommens auf der einen oder der anderen Seite verzögern, könnte es ab 2011 provisorisch angewendet werden. Die Botschaft des Bundesrats soll wenn möglich auf die Herbstsession 09 hin vorliegen, so dass das Parlament die Vorlage im Dezember und im März beraten könnte. Die Beteiligung am nächsten EU-Programm (ab 2014) muss erneut vereinbart werden. Sie wird ausgeschlossen im Fall, dass das Freizügigkeitsabkommen gekündigt würde.
Seit 1995 konnte sich die Schweiz «indirekt» an den Bildungsprogrammen beteiligen. So absolvierten letztes Jahr 2100 Studierende einen «Erasmus»-Aufenthalt in einem EU-Land, und etwa gleich viele kamen in die Schweiz. Zudem wurden rund 250 Gastaufenthalte von Dozenten unterstützt. Die Zahl der auswärtigen Praktika war mit 200 bis 250 in den letzten Jahren relativ klein. Noch bescheidener war die organisierte Mobilität im ausserschulischen Bereich (Begegnung von Gruppen, Freiwilligendienst). Hinzu kam die Beteiligung an Projekten wie der Entwicklung gemeinsamer Curricula oder pädagogischer Konzepte. Insgesamt wandte die Schweiz für diesen Austausch letztes Jahr 16 Millionen Franken auf.
Das Abkommen wird nun die Beteiligung rechtlich absichern und der Schweiz einen besseren Status verschaffen, indem sie Zugang zu allen Informationen und zu den die Programme gestaltenden Gremien erhält. Schweizerische Institutionen werden selber Projekte lancieren und solche leiten können. Im Weiteren erhofft man sich beim Bund, wie Verena Weber ausführt, eine Steigerung der Mobilität insbesondere in der Berufsbildung sowie eine Ausweitung der Zusammenarbeit in Projekten. Da die in die Schweiz kommenden Studierenden in Zukunft ihre Unterstützung von der EU erhalten, werden – neben der Erhöhung des Kredits – zusätzliche Mittel frei. Damit könnten allenfalls die «Erasmus»-Stipendien von heute etwa 250 Franken pro Monat erhöht werden.
Vom ausgehandelten Beitrag der Schweiz werden nach Angaben der Verhandlungsleiterin etwa 15 Prozent nach Brüssel für zentral verwaltete Projekte und zu einem kleinen Teil für die Infrastruktur gehen. Der Rest wird in der Schweiz verwendet beziehungsweise zugeteilt. Mit der Umsetzung (eine ausdrücklich zuständige «Agentur» ist obligatorisch) soll die CH-Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit in Solothurn betraut werden. In ihrer Eingabe sah sie dafür über 20 Stellen vor, doch ist darüber noch nicht entschieden. NZZ, 7. August 09, S. 13
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Handfeste Nachteile überwiegen Aus Sicht der Wirtschaft würde die Schweiz mit einem EU-Beitritt wenig gewinnen – aber viel
verlieren:
Zinsen: Früher oder später würde bei einem EU-Beitritt der Schweizer Franken verschwinden. Mit der Übernahme des Euro könnte die Nationalbank die Zinsen nicht mehr gezielt nach den Bedürfnissen der Schweizer Wirtschaft steuern. Und das schweizerische Zinsniveau stiege auf jenes der EU. Heute ermöglichen die im Vergleich tieferen Zinsen billigere Kredite, was dem Wirtschaftswachstum hilft.
Steuern: Als Vollmitglied müsste die Schweiz die Mehrwertsteuer auf den EU-Mindestsatz von 15 Prozent erhöhen. Soll die Steuerbelastung insgesamt nicht steigen, bräuchte es andernorts eine Kompensation. Tendenziell verlören die Kantone dadurch ein Stück ihrer Finanzautonomie. Der Steuerföderalismus gilt der Wirtschaft aber als Garant für ein tiefes Steuerniveau.
Bankgeheimnis: Das Bankgeheimnis ist unter dem Druck des Auslands – nicht zuletzt der EU – bereits stark gelockert worden. Bei einem EU-Beitritt müsste die Schweiz aber im Prinzip den automatischen Informationsaustausch von Kundendaten übernehmen. Das wollen die Finanzinstitute so lange wie möglich abwenden und sehen dafür ausserhalb der EU nach wie vor bessere Chancen.
Arbeitsmarkt: Der Arbeitnehmerschutz ist in der EU teilweise höher (stärkerer Kündigungsschutz, Elternurlaub). Das gefällt der Wirtschaft nicht. Denn die Unternehmer führen die hierzulande vergleichsweise tiefe Arbeitslosenquote auf den flexibleren Schweizer Arbeitsmarkt zurück.
Tages-Anzeiger, 17. August 09
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„Stärke des bilateralen Weges“ EDA-Staatssekretär Michael Ambühl erklärt im «Bund»-Gespräch die Stärken des bilateralen Weges (Auszüge)
Ambühl: Der bilaterale Weg der Schweiz, der einer anderen Logik folgt als der Integrationsprozess im Rahmen der EU, ist heute in Brüssel weitgehend akzeptiert. Ein wichtiger Grund dafür ist die Tatsache, dass wir in den letzten Jahren alle Volksabstimmungen gewonnen haben. Wir haben geleistet, was wir versprochen haben.
Dass in den letzten Jahren neue Abkommen ausgehandelt wurden und dass dieser Prozess z.B. in den Bereichen Energiemarkt, Agrarfreihandel oder Zinsbesteuerung fortgesetzt werden soll, zeigt eine Stärke und nicht eine Schwäche des bilateralen Weges. Das System ist fähig, mit der Realität Schritt zu halten. Faktisch ist die Schweiz heute mit der EU sehr eng verbunden. In einigen Bereichen mehr als die meisten EU-Länder unter sich. Pro Tag gehen Güter und Dienstleistungen für eine Milliarde Franken über die Grenze. Im Personenverkehr werden pro Tag 700 000 Grenzübertritte gezählt. Die EU ist für die Schweiz die wichtigste Handelspartnerin. Sie rangiert in der Grössenordnung von China und Russland. In der Schweiz leben 900 000 EU-Bürger, mehr als in den zwei kleinsten EU-Ländern zusammen. Angesichts dieser extrem engen und dynamischen Verflechtung ist klar, dass es immer neue Fragen zu regeln gibt.
„Bund“: Das bilaterale Netz, so wird argumentiert, enge die Handlungsfreiheit des Landes ein. Wir dürften über Verträge abstimmen, aber nie Nein sagen, weil wir sonst – alles oder nichts – aus dem ganzen Vertragssystem ausgestossen würden.
Das ist nicht richtig. Der bilaterale Weg ist ein Mix von Pflichten und Rechten. Wo wir an den Binnenmarkt angedockt sind, ist unser Bewegungsspielraum in der Tat eingeschränkt. Übereinstimmendes Ziel der EU und der Schweiz sind dort im ganzen Gebiet einheitliche Marktzugangsregeln, um eine Diskriminierung beim gegenseitigen Marktzugang zu vermeiden.
Wo es nicht um den Binnenmarkt geht, haben wir mehr Freiraum. Bei den biometrischen Pässen zum Beispiel, die eine Weiterentwicklung der Schengen-Dublin-Verträge darstellen, hätte ein Nein der Schweiz nicht unbedingt zum Verlust dieser Abkommen geführt. Und schliesslich ist die Schweiz nach wie vor in sehr vielen Bereichen nicht ins EU-Recht eingebunden. In der Währungs-, Wirtschafts-, Aussenhandels- und Aussenpolitik gegenüber Drittländern, in der Sozial- und Agrarpolitik und – trotz dem gegenwärtigen Konflikt über die internationale Bekämpfung von Steuerhinterziehung – auch in fast allen Fragen der Steuerpolitik verfügen wir über Handlungsspielraum. Im Übrigen: Wenn man denkt, ein EU-Beitritt würde das Problem der Rechtsübernahme lösen, dann ist das eine heikle Argumentation: Der vom EU-Recht bestimmte Bereich wäre dann noch wesentlich grösser als heute.
„Bund“ Aber als EU-Mitglied könnte die Schweiz bei neuen Integrationsschritten und der Weiterentwicklung des Rechts mitbestimmen.
Ambühl: Das stimmt. Tatsache ist aber, dass mit jedem neuen Mitglied der Einfluss jedes Einzelnen politarithmetisch abnimmt. Das gilt für die Grossen. Und für Kleine. Mit aktiver Interessenvertretung in themenbezogenen Allianzen könnte der Einfluss zwar verbessert werden. Ein einzelnes Land kann diese Schicksalsgemeinschaft aber nicht in eine von den anderen nicht gewollte Richtung lenken. Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder als eines von bald 30 Mitgliedern mitbestimmen und akzeptieren, dass man EU-Regeln auch anwenden muss, wenn man überstimmt wurde. Oder als Nicht-Mitglied gemeinsame Probleme mit bilateralen Verträgen regeln, die dazu führen, dass man bei Weiterentwicklungen keine Mitbestimmung hat. Negativ zugespitzt ist abzuwägen zwischen der Gefahr einer Minorisierung innerhalb und einer Satellisierung ausserhalb der EU. Positiv formuliert geht es um einen Vergleich zwischen mehr Mitbestimmung als EU-Mitglied und mehr Bereichen der Autonomie als Nicht-EU-Mitglied.
„Bund“: Während die Politik über neue Abkommen streitet, läuft hinter dem Vorhang eine umfangreiche Anpassung bestehender Verträge an neues EU-Recht. Stichwort: pseudo-autonomer Nachvollzug.
Ambühl: In der Schweiz läuft nichts hinter den Kulissen. Rechtsanpassungen finden nur statt, wenn sie entsprechend den verfassungsmässigen Zuständigkeiten vom Bundesrat, Parlament oder Volk genehmigt sind. Das Problem der Anpassung von Abkommen an neue Realitäten ist nicht neu. Auch früher sind solche Abkommen immer wieder neuen Gegebenheiten angepasst worden. In einzelnen jüngeren bilateralen Verträgen wurden die Entwicklungsmöglichkeiten aber verfeinert. In Verträgen wie Schengen/Dublin oder dem revidierten Güterkontrollabkommen ist etwa ein Mitwirkungsrecht der Schweiz bei Entwicklungen des EU-Acquis vorgesehen. Es stimmt aber, dass die EU stärker als früher darauf drängt, dass ihr Recht im Gleichschritt übernommen wird. Der Vorwurf, es gebe da für die Schweiz nur «copy-paste», blendet einen Teil der Realität aus: die Möglichkeit der Mitwirkung.
„Bund“: Solche Probleme, zum Beispiel mit dem Bankgeheimnis, hätten wir als EU-Mitglied nicht.
Ambühl: Stimmt. Aber nur darum, weil wir unsere Regeln beim EU-Beitritt hätten aufgeben müssen. Und zwar ganz im Sinne des EU-Rechts. Da stellt sich die Frage der Redlichkeit: Man kann nicht auf der einen Seite den EU-Beitritt verlangen, aber regelmässig Widerstand leisten, wenn es um einen Schritt der Anpassung ans Recht der EU geht.
„Bund“: Wie geht das weiter? Auf der einen Seite die, die endlich in die EU wollen. Auf der anderen jene, die noch an einen souveränen Alleingang glauben. Und jetzt Klagen, der bilaterale Mittelweg führe in quasi koloniale Abhängigkeit.
Ambühl: Der Bundesrat ist der Meinung, im jetzigen Zeitpunkt sei der bilaterale Weg einer massgeschneiderten Integration richtig. Wir docken in bestimmten Bereichen an die EU an und erreichen so, was für uns wichtig ist: Marktzugang und Rechtssicherheit. Verzichten müssen wir auf Mitentscheidungsrechte. Wir erhalten nur ein Mitgestaltungsrecht. Dafür bleibt uns in den anderen Bereichen politischer Freiraum. Zur Zeit spricht die Güterabwägung nach Ansicht des Bundesrates für den bilateralen Weg. Der Bund, 19. August 09.
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