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Kurzinfos September 2022



ETH-Professor relativiert Bedeutung des Auschlusses von Horizon Europa

ETH-Professor Didier Queloz «Wir müssen kreative Lösungen finden, damit gute Forscher zu uns kommen oder nicht abwandern. Aber als Wissenschafter mache ich meine Entscheidungen nicht davon abhängig, was in Brüssel entschieden wird. So funktioniert die Wissenschaft nicht. Uns geht es nicht so sehr ums Geld, uns geht es um Ideen und darum, in einem inspirierenden Umfeld arbeiten zu können. Und das bietet die ETH Zürich mit dem neuen Zentrum.»

NZZ: Wird es Kooperationen mit anderen Hochschulen geben?

Queloz: «Ja, unter anderem mit der Universität in Cambridge. Da gibt es heute schon viele Überschneidungen, nicht zuletzt wegen meiner Person. Man darf nicht vergessen: Wir sind ein relativ kleiner Klub von Forschern. Die Wissenschafter der Top-Universitäten kennen sich und tauschen sich aus. Das ist also nichts Besonderes. Mit unserem Zentrum wollen wir diesen Austausch aber noch intensivieren. Wir wollen uns mit den besten Forschern auf der ganzen Welt vernetzen.» NZZ, 3. September 2022, Interview mit ETH-Professor Didier Queloz.


Deutschland: „Bereit zu führen“

Eine der einflussreichsten deutschen Tageszeitungen unterzieht die wiederholt vorgetragenen Führungsansprüche der Bundesregierung auf EU- und globalem Niveau einer Art konstruktiver Manöverkritik. Die Führungsansprüche sind nicht neu; schon vor mehr als zehn Jahren hatte der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Volker Kauder, von einer „Zeitenwende“ gesprochen und offen erklärt, Berlin müsse „Europa in eine neue Zeit führen“. Seit mehreren Monaten preschen immer mehr Berliner Spitzenpolitiker, darunter Bundesminister, erneut vor und äußern wie zum Beispiel Außenministerin Annalena Baerbock: „Wir sind bereit, ... zu führen“. Zur Durchsetzung des Führungsanspruchs verlangt Kanzler Olaf Scholz die Einführung von Mehrheitsentscheidungen in der EU-Außenpolitik. Dies werde kaum gutgehen, heißt es jetzt in der konservativen Frankfurter Allgemeinen Zeitung: Einige EU-Staaten hätten schon weniger gravierende Beschlüsse zur Umverteilung von Flüchtlingen innerhalb der Union nicht befolgt. Berlin habe sich zuletzt allzu oft „auf das Einfordern von Gefolgschaft“ beschränkt; zukünftig müsse es, wolle es Erfolge erzielen, „kooperativ“ vorgehen.

„Zeitenwende”

Deutsche Führung in Europa, womöglich gar in der Welt ist in Berlin in der Vergangenheit immer wieder eingefordert worden. Im Herbst 2011 etwa, als die Bundesrepublik der EU in der Eurokrise ihre Austeritätspolitik oktroyierte, erklärte der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Volker Kauder: „Wir befinden uns in Europa in einer gewissen Zeitenwende. ... Wir spüren, dass wir dieses Europa in eine neue Zeit führen müssen.“[1] Kauder triumphierte mit Blick auf die Berliner Austeritätsdiktate: „Auf einmal wird in Europa Deutsch gesprochen.“ Beobachter urteilten damals, ein „deutsches Europa“ gewinne „Kontur“.[2] Auch in Think-Tanks der deutschen Außenpolitik ist die deutsche Dominanz innerhalb der EU immer wieder thematisiert worden. Die Bundesrepublik solle ihre „Führungsrolle“ in der Union festigen, hieß es etwa in einem Strategiepapier der Münchner Sicherheitskonferenz aus dem Jahr 2020: „Nur wenn Deutschland sich der Führungsrolle stellt, die ihm als größtem Mitgliedstaat der Union zukommt, wird Europa in der Lage sein, souverän zu handeln“.[3] Der Titel des Dokumentes: „Zeitenwende – Wendezeiten“. Gut ein Jahr zuvor hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den Berliner Anspruch global ausgeweitet und verlangt, „Europa“ müsse seine „einzigartige Marke verantwortlicher globaler Führung stärken“.[4]

„Führungsmacht“

Ähnliche Äußerungen werden inzwischen, anknüpfend an die von Kanzler Olaf Scholz nun auch offiziell ausgerufene „Zeitenwende“, regelmäßig aus der deutschen Regierungskoalition vorgetragen. „Deutschland muss den Anspruch einer Führungsmacht haben“, forderte der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil am 21. Juni 2022; dabei gelte es „auch militärische Gewalt als ein legitimes Mittel der Politik zu sehen“.[5] Seit diesem Vorstoß äußern sich auch Regierungsmitglieder öffentlich in diesem Sinn. Deutschland werde „in den nächsten Monaten konkrete Vorschläge machen“, um die von Berlin dominierte EU für die Zukunft als „geopolitischen Akteur“ zu positionieren, kündigte Kanzler Scholz im Juli in einem Zeitungsbeitrag an.[6] Außenministerin Annalena Baerbock erklärte am 5. September 2022 in ihrer Eröffnungsrede zur diesjährigen Berliner Botschafterkonferenz: „Wir sind bereit, ... zu führen“. Baerbock präzisierte freilich – vermutlich mit Blick auf die grüne Wahlklientel –, die „Führung“ sei „in Solidarität mit unseren Freundinnen und Freunden in Verantwortung“ geplant.[7] Ohne Wortblasen kam Verteidigungsministerin Christine Lambrecht aus, die eine Woche später, am 12. September, trocken formulierte, Deutschland sei „Führungsmacht“ – und zwar „auch im Militärischen“.[8]

„Belehrungen aus Berlin“

Die Berliner Führungsansprüche werden zur Zeit von einer der einflussreichsten deutschen Tageszeitungen mit einer Art konstruktiver Kritik begleitet. „Die Wiedervereinigung und der Umzug von Bonn nach Berlin“ hätten „tatsächlich bewirkt, was manche unserer Nachbarn befürchtet hatten“, heißt es in einem aktuellen Kommentar in der konservativen Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Seit der Regierungszeit Gerhard Schröders tritt Deutschland nach außen zunehmend selbstbewusster, gar nicht so selten auch selbstherrlich auf.“[9] Deutsche Führung“ sei „in den vergangenen Jahren“ in der Praxis „oft auf das Einfordern von Gefolgschaft hinaus[gelaufen]“; so habe die Bundesregierung „in der Eurokrise ... Austerität von den Partnern“ verlangt, „in der Flüchtlingskrise die Aufnahme von Asylbewerbern, in der Russlandpolitik die Hinnahme von Nord Stream 2“. „Die antideutschen Ressentiments, die in Europa wieder aufleben“, seien „auch eine Reaktion auf die ‘Führung‘ aus Berlin, die in Wirklichkeit oft aus Alleingängen bestand“. Immer wieder, von der Klima- über die Atom- bis zur Frauenpolitik, presche die Bundesregierung unabgestimmt voran. „Unsere Partner“, hält die Frankfurter Allgemeine fest, „kennen ... die Belehrungen aus Berlin. Sie folgen ihnen selten.“

„Nur kooperativ möglich“

Ausdrücklich warnt die Zeitung vor Versuchen, bestehende Widerstände in der EU durch die Einführung von Mehrheitsentscheidungen auch in der EU-Außenpolitik zu brechen. Letzteres gehört seit Jahren zum Kernbestand deutscher Forderungen an Brüssel; Kanzler Scholz hat sich den Plan kürzlich explizit zu eigen gemacht. „Die Mehrheitsregeln im Rat begünstigen ... die großen Mitgliedstaaten, weil sie die Einwohnerzahl berücksichtigen“, konstatiert die Frankfurter Allgemeine; Scholz gehe es „letztlich darum, kleineren EU-Ländern das Vetorecht zu nehmen“.[10] Das aber sei riskant: In der Außenpolitik gehe es „in letzter Konsequenz ... um Krieg und Frieden“; „die Vorstellung“, andere EU-Mitgliedstaaten „bei Fragen von solcher Tragweite einfach mal überstimmen“ zu können, sei „befremdlich“: Dies sei nicht einmal in der NATO möglich. Schon dem weniger weit reichenden Beschluss aus dem Jahr 2015, Flüchtlinge innerhalb der EU umzuverteilen, hätten sich bekanntlich „mehrere osteuropäische Staaten erfolgreich“ verweigert. Die Zeitung rät daher ausdrücklich von jeglichen Mehrheitsentscheidungen in der EU-Außenpolitik ab: „Wenn Deutschland Führungsmacht sein will, ... dann wird das in Zukunft nur noch kooperativ gehen“. Das gelte auch für den Bereich, den Scholz als ersten künftig Mehrheitsentscheidungen unterwerfen will: für die Sanktionspolitik.

„Keine Führung ohne Kernwaffen“

Jenseits des Rats, von offenem Dominanzgehabe abzulassen und stattdessen die kleineren EU-Mitgliedstaaten durch „Kompromisssuche und Konsensbildung“ einzubinden, verweist die Frankfurter Allgemeine auf ein Grundproblem der Berliner Außenpolitik: darauf, dass Deutschland – anders als etwa Frankreich oder Großbritannien – nicht über Nuklearwaffen verfügt. „Eine Führungsmacht ohne Kernwaffen“ aber, konstatiert die Zeitung, „hat man seit 1945 nicht mehr gesehen“.[11] Auch aus diesem Grund werden in der Bundesrepublik seit Jahren immer wieder Forderungen laut, entweder eine EU-Nuklearstreitmacht aufzubauen – mutmaßlich unter Rückgriff auf das französische Atompotenzial – oder sogar einen deutschen Besitz von Nuklearwaffen anzustreben. Zuletzt hat der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Thorsten Frei, im Mai 2022 den Aufbau eines eigenen „atomaren Schutzschirms“ durch die EU verlangt (german-foreign-policy.com berichtete [12]). 21. September 2022, https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9029

[1] „Auf einmal wird in Europa Deutsch gesprochen“. welt.de 15.11.2011. S. dazu Jetzt wird Deutsch gesprochen. https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/5414

[2] Gunter Hofmann: Deutsches Europa. zeitschrift-ip.dgap.org 09.12.2011. S. dazu Alte Dämonen. https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/5438

[3] Zeitenwende - Wendezeiten. Sonderausgabe des Munich Security Report zur deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. München, Oktober 2020. S. auch Die „Koalition der Entschlossenen” (II). https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8402

[4] Ursula von der Leyen: A union that strives for more: My agenda for Europe. Political guidelines for the next European Commission 2019-2024. 16.07.2019. S. auch Die Lust an der Macht. https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8046/

[5] „Der Westen hat sich zu lange sicher gefühlt“. ipg-journal.de 22.06.2022.

[6] Olaf Scholz: Nach der Zeitenwende. Frankfurter Allgemeine Zeitung 18.07.2022. S. dazu Deutschland als Führungsmacht. https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8981

[7] Eröffnungsrede von Außenministerin Annalena Baerbock auf der 20. Konferenz der Leiterinnen und Leiter der deutschen Auslandsvertretungen. auswaertiges-amt.de 05.09.2022.

[8] „Deutschlands Gewicht macht uns zur Führungsmacht“. tagesschau.de 12.09.2022. S. auch „Wir sind Führungsmacht“. https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9021

[9] Nikolas Busse: Keine Führungsmacht. Frankfurter Allgemeine Zeitung 19.09.2022.

[10] Nikolas Busse: Die falsche Lehre aus dem Krieg. Frankfurter Allgemeine Zeitung 03.09.2022.

[11] Nikolas Busse: Keine Führungsmacht. Frankfurter Allgemeine Zeitung 19.09.2022.

[12] S. dazu Die „Atom-Supermacht Europa“. https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8931


Aserbaidschanische Armee filmt tödliche Folter einer Armenierin

«Die ganze Welt sollte wissen, dass wir auf der Seite unseres aserbaidschanischen Brudervolks stehen», erklärte Mitte September 2022 der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan vor der Nationalversammlung in Ankara. «Die Unterstützung der Türkei ist absolut und vollständig», doppelte auch Erdogans rechtsnationalistischer Regierungsalliierte Devlet Bahceli via Twitter nach. Die Streitkräfte des aserbaidschanischen Brudervolks hatten gerade Armenien überfallen, Dörfer und Kleinstädte mit türkischen Killerdrohnen und Artillerie beschossen und strategische Höhen im armenischen Territorium besetzt.

Armenien leidet erneut

Weniger als zwei Jahre nach dem Angriffskrieg Aserbaidschans gegen die Armenier von Berg-Karabach, führt das aserbaidschanische Militär erneut einen Krieg gegen die Republik Armenien. Insgesamt 600 Soldaten sollen bislang ums Leben gekommen und nochmals so viele verwundet worden sein. 7600 Zivilisten mussten evakuiert werden. Zahllose zivile Gebäude wurden zerstört.

Ein verstörendes Video macht seither in den sozialen Medien die Runde: Es zeigt, wie die 36-jährige armenische Soldatin Anush Apetyan in der armenischen Stadt Jermuk gefangen genommen und von aserbaidschanischen Soldaten vergewaltigt, gefoltert, getötet und ihre Leiche schliesslich zerstückelt wird. Ihre Peiniger stecken ihr die abgetrennten Finger in den Mund und stechen ihr die Augen aus. Dabei filmten sie ihren Gewaltakt minutiös und luden das Video ins soziale Mediennetz «Telegram» hoch. Infosperber ist im Besitz des Videos. Die Soldatin Apetyan lässt drei Kinder im Alter von 16, 15 und 4 Jahren zurück.

Infokrieg dient der Einschüchterung

Dieses Video und weitere Gewaltdarstellungen, welche aserbaidschanische Soldaten ins Netz gestellt haben, riefen in Armenien schlagartig das Trauma vom 1915 wach: Damals verordneten die regierenden Jungtürken die Deportation der gesamten armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reichs in die Wüste. Über 1,2 Millionen Menschen gingen auf diesen Deportationsrouten, die in Wirklichkeit nichts anders als Todesrouten waren, elendig zugrunde. Das Schicksal von Anush Apetyan spielte sich damals tausendfach ab.

«Wir rufen ohne Stimmen, und ohne Hoffnung, gehört zu werden», umschrieb einst der armenische Dichter Vahan Teryan das nationale Trauma. Das griff vor kurzem der junge armenische Schriftsteller Grigor Shashikyan auf: «Wir sind ganz allein auf uns gestellt», sagte er. «Nun kann meine Generation an der eigenen Haut spüren, was Vahan Teryan genau meinte.»

Aus Angst vor Übergriffen aus Aserbaidschan oder aus der Türkei hielt Armenien auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion an einer strategischen Allianz mit Russland fest. Denn aus armenischer Sicht war nach 1915 «der Türke» der Inbegriff der existenziellen Bedrohung schlechthin. Doch Russland eilte dem treuen Alliierten nicht zu Hilfe – nicht, als Aserbaidschan mit Hilfe der Türkei 2020 den Krieg in Bergkarabach anzettelte, und auch nicht Mitte September, als Aserbaidschan armenisches Territorium angriff.

Aufgrund seiner angeblichen Nähe zu Russland wurde Armenien ironischerweise vom Westen schon immer ignoriert. Dass aserbaidschanische Soldaten ihre Gewalttaten straflos begehen und sich mit diesen in den sozialen Medien gar brüsten dürfen, nährt in der armenischen Bevölkerung die Überzeugung, dass Aserbaidschan den Krieg gegen ihr Land so lange fortsetzen werde, bis es die armenische Republik, wie sie heute existiert, nicht mehr gibt.

Drei Tage nach dem Überfall der aserbaidschanischen Armee wurde Jerewan völlig unerwartet von einem hohen Gast besucht: Die Vorsitzende des Repräsentantenhauses der USA, Nancy Pelosi, brandmarkte vor dem armenischen Parlament die «tödlichen Angriffe Aserbaidschans auf armenisches Territorium» als völkerrechtswidrig und verurteilte diesen Angriff auf die Souveränität Armeniens scharf. Europa will Geschäftspartner nicht verstimmen

Ihre feurige Rede war ein Seitenhieb auf Russland, das seinen strategischen Alliierten in seiner Not schutzlos liess. Der Besuch der alten Dame aus den USA war zugleich aber auch eine unmissverständliche Kritik an die Adresse Europas.

Darum bemüht, das russische Gas durch andere Quellen zu ersetzen, hat Ursula von der Leyen im Juli 2022 Aserbaidschans Hauptstadt Baku besucht. Dort schloss die alte Dame aus Brüssel, die sich gerne als starke Politikerin der EU inszeniert, ein neues Abkommen für eine doppelte Menge an Erdgas aus Aserbaidschan für die EU und lobte ihren Gastgeber Ilham Alijew mehrfach als «vertrauenswürdigen Partner». Offenbar um den werten Partner nicht zu verstimmen, verlor Frau von der Leyen bislang auch kein Wort, weder über Aserbaidschans völkerrechtswidrigen Krieg, noch über die Kriegsverbrechen seiner Truppen.

Widersprüchliches Verhalten

Wie sinnvoll eine Politik ist, die den einen Herrscher – Putin – als moralisch verwerflichen Diktator anprangert und den zweiten Herrscher – Alijew – als «vertrauenswürdigen Partner» reinwäscht, bleibt das Geheimnis von Frau von der Leyen. Infosperber, 29. September 2022


Illegaler Fisch auf dem Tisch – Rechnungshof rügt Fischereipolitik

Der Europäische Rechnungshof (ECA) hat festgestellt, dass immer noch zu viel illegal gefangene Fische und Meeresfrüchte auf europäischen Tellern landen. Zwar gebe es wirksame EU-Vorschriften zur Bekämpfung der illegalen, nicht gemeldeten und unregulierten Fischerei (IUU), diese würden jedoch durch mangelnde Anstrengungen der Mitgliedstaaten untergraben.

Unter anderem fehlten abschreckende Sanktionen und eine einheitliche Umsetzung bei den Kontrollen. Dadurch seien „diese Maßnahmen nicht so wirkungsvoll, wie sie sein sollten“, konstatiert der Rechnungshof in einem entsprechenden Sonderbericht. In mehreren Mitgliedstaaten sei der wirtschaftliche Nutzen des illegalen Fischfangs höher als der wirtschaftliche Schaden durch verhängte Sanktionen..

IUU stelle „eine der größten Bedrohungen für die marinen Ökosysteme“ dar, da sie die Bemühungen um eine nachhaltige Bewirtschaftung der Fischbestände unterlaufe, so der ECA. Die EU sei, gemessen an ihrer Fischereiflotte von rund 79.000 Schiffen, ein wichtiger Global Player im Fischereisektor. Darüber hinaus sei die EU die weltgrößte Importregion für Fischereierzeugnisse mit einem Anteil von 34 Prozent des weltweiten Handels. Im Einklang mit den Zielen der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) hatte sich die EU verpflichtet, die IUU bis 2020 zu beenden. Anlass für Kritik vom ECA: „Sie hat dieses Ziel jedoch verfehlt. Zudem bietet die Legalität eines Produkts allein noch keine Gewähr dafür, dass es auch nachhaltig gewonnen wurde.“

Die Meeresschutzorganisation Oceana begrüßte den ECA-Bericht: „Wenn illegale Fangtätigkeiten aufgedeckt werden, ist eine Geldstrafe von 200 Euro nicht abschreckend genug für Schiffe, die mit einem Gewinn von Tausenden von Euro arbeiten.“ EU-News, 29. September 2022

Sonderbericht 20/2022: EU-Maßnahmen zur Bekämpfung der illegalen Fischerei – Kontrollsysteme sind vorhanden, werden aber durch uneinheitliche Kontrollen und Sanktionen der Mitgliedstaaten beeinträchtigt https://eca.europa.eu/de/Pages/DocItem.aspx?did=61941

Oceana: The EU must do more to block illegal seafood products from the EU market https://europe.oceana.org/press-releases/eu-must-do-more-block-illegal-seafood-products-eu-market/


Staatssekretärin Leu: «Die EU versucht, Druck aufzusetzen»

Interview mit der Staatssekretärin Leu

NZZ: Frau Leu, Sie waren letzte Woche erneut für Sondierungen mit der EU in Brüssel. Wie lange dauern diese Gespräche noch?

Frau Leu: Sondieren bedeutet, das Feld abzustecken für künftige Verhandlungen. Beide Seiten wollen verhindern, dass ein neuer Anlauf scheitert. Mit einer Frist würden wir uns selbst schaden.

NZZ: Vor den Sommerferien sagten Sie, solche Sondierungen könnten drei oder vier Jahre dauern. Haben wir so viel Zeit?

Frau Leu: Wenn wir genau abklären, ob es eine gemeinsame Basis gibt, ist das gut investierte Zeit. Zudem ist das Thema komplex. Wir sprechen über ein Paket mit verschiedenen Themen. Die Schweiz möchte vorwärtsmachen. Leider legt die EU keine grosse Eile an den Tag und hat die Termine mehrmals hinausgezögert. Obschon für Anfang Oktober eine nächste Runde festgelegt wurde, sind Verzögerungen wohl Teil ihres generellen Ansatzes in diesen Explorationen.

NZZ: Wie meinen Sie das?

Frau Leu: Die EU versucht, Druck aufzusetzen.

NZZ: Die EU will die Schweiz mürbe machen, bis sie sich bewegt . . .

Frau Leu:. . . das haben Sie jetzt gesagt.

NZZ: In Brüssel ist das Gegenteil zu hören: Die Schweiz spiele auf Zeit und sage nicht, was sie wolle.

Frau Leu: Das stimmt nicht. Der Bundesrat hat rasch und klar gesagt, was sein Plan ist. Bereits im Februar hat er beschlossen, der EU ein Paket für neue Gespräche vorzuschlagen. Und im Juni hat er entschieden, die Explorationen zu intensivieren. Das hat er so auch klar öffentlich kommuniziert.

NZZ: Kommt man sich inzwischen beim grössten Streitpunkt, der Personenfreizügigkeit, näher?

Frau Leu: Dazu laufen technische Gespräche. Die Übungsanlage ist anders als in den Verhandlungen über das Rahmenabkommen. Damals gab es gewisse rote Linien. Über die heikelsten Fragen durften die Schweizer Unterhändler nicht verhandeln. Heute können wir offener mögliche Lösungen ausloten. Natürlich verteidigen wir aber weiterhin zentrale Interessen der Schweiz, namentlich beim Lohnschutz sowie bei der Zuwanderung in die Sozialwerke.

NZZ: Bis jetzt sieht es nicht gut aus: Sie wollten die EU dazu bringen, die Schweiz bei der Forschung wieder stärker einzubinden. Dort geht es nicht einmal um den Zutritt zum Binnenmarkt . . .

Frau Leu:. . . so ist es, tatsächlich.

NZZ: Trotzdem blockt die EU ab. Weshalb?

Frau Leu: Das gehört eben zu dieser – ich kann es nicht anders nennen – Druckpolitik der EU. Für die Suche nach Lösungen ist dies nicht förderlich. Gerade vor dem Hintergrund, dass Europa zusammenstehen sollte, ist dieses Verhalten schwer nachvollziehbar.

NZZ: Die EU hat wohl gelernt, dass die Schweiz bei der Forschung empfindlich ist.

Frau Leu: Sie hat gemerkt, dass es uns schmerzt, wenn sie die Forschungszusammenarbeit so stark einschränkt. Die EU weiss aber auch, dass dieses Druckmittel ein Ablaufdatum hat. Irgendwann ist die Teilnahme nicht mehr gleich interessant, wenn einmal die meisten Kooperationen vergeben sind. Wir haben hervorragende Hochschulen. Die Forscher dürften unter diesen Umständen vermehrt Kooperationen in den USA, in Grossbritannien oder anderen Ländern eingehen. Die Schweiz würde zudem einen namhaften finanziellen Beitrag an das Forschungsprogramm leisten. Die EU nimmt hier also auch eigene Nachteile in Kauf.

NZZ: Als Sie Ihr Amt angetreten haben, sagten Sie, mit «Verhandlungskreativität» sollte eine Lösung möglich sein. Würden Sie das heute auch noch sagen?

Frau Leu: Wir sind noch nicht in Verhandlungen, sondern erst am Abstecken des Terrains. Auch wenn es nicht alle wahrhaben wollen: Der Bundesrat hat die Forderung der EU, ein klares Bekenntnis abzugeben, längst erfüllt. Mit dem neuen Paketansatz hat er sich bereit erklärt, sich institutionell an die EU anzunähern. Dazu gehört die dynamische Rechtsübernahme, die eine wesentliche Veränderung in unseren bilateralen Beziehungen darstellen würde. Wir sind auch bereit, miteinander eine Streitbeilegung festzulegen und über eine Verstetigung des Schweizer Beitrages zu sprechen. Der zweite Kohäsionsbeitrag ist bereits in Umsetzung. Die Schweiz hat positive Zeichen ausgesandt und auch klare Vorschläge präsentiert. Die EU ist bereit, auf den Paketansatz einzusteigen, das ist positiv. Aber auch sie muss sich noch bewegen.

NZZ: Die EU verlangte vor allem auch einen verbindlichen Zeitplan, da ist der Bundesrat noch nicht so weit.

Frau Leu: Der Zeitplan hängt auch von der EU ab. Auch ich dachte zu Beginn, wenn die Sondierungen gut laufen, könnten wir im Herbst mit den Verhandlungen beginnen. Es lief leider langsamer als erwartet – und dies nicht unseretwegen.

NZZ: Aber auch inhaltlich gibt es Fragezeichen: Wie weit will der Bundesrat der EU bei den grossen Streitfragen rund um Lohnschutz und Sozialwerke entgegenkommen? Er verlangt verbindliche Ausnahmen. Dies ist doch letztlich der entscheidende Punkt.

Frau Leu: Es stimmt, dass die EU grundsätzlich keine Ausnahmeregelungen mag. Als Nichtmitglied mit nur sektoriellem Zugang zum Binnenmarkt braucht die Schweiz aber in sensiblen Bereichen Ausnahmen, etwa beim Lohnschutz. Die politische Diskussion sollte auch die Realitäten und die Zahlen berücksichtigen. Wir sind schon heute stark in den freien Personenverkehr eingebunden: 8 bis 10 Prozent aller Menschen, welche die Freizügigkeit nutzen, kommen in die Schweiz. Die Zahl der EU-Bürgerinnen und -Bürger, die hier leben, ist dreimal so hoch wie umgekehrt. Hinzu kommen Hunderttausende Grenzgänger und Dienstleistungserbringer, die in einem EU-Staat leben und in der Schweiz Arbeit leisten. Das zeigt: Die bestehenden Regelungen haben nicht zu einer Marktbehinderung geführt. Der Zugang in die Schweiz ist gewährleistet.

NZZ: Mit anderen Worten: Die EU übertreibt?

Frau Leu: Sie ist einfach sehr prinzipiell unterwegs. Man sollte auch nicht vergessen, dass die relativ grosse Zuwanderung bei uns immer wieder für politische Diskussionen sorgt. Es liegt im beidseitigen Interesse, dass wir die Personenfreizügigkeit weiterführen können. Das wird nur möglich sein mit einer Lösung, die auch in der Schweiz eine Mehrheit findet.

NZZ: Sie werden im Inland teilweise kritisiert: Parlamentarier nehmen Sie als defensiv wahr, europafreundliche Kreise wünschen sich mehr Engagement. Was sagen Sie dazu?

Frau Leu: Europapolitik ist Sache des Gesamtbundesrats. Er ist mein Auftraggeber. Ich halte mich an seinen Auftrag.

NZZ: Am Dienstag treffen Sie Ihr Pendant der EU: Stefano Sannino, den Generalsekretär des Auswärtigen Diensts. Was werden die Themen sein? Frau Leu: Mit ihm sprechen wir über unsere gemeinsamen aussenpolitischen Interessen. Das ist viel weniger kontrovers, wir haben hier grosse Übereinstimmung. Das sieht man zum Beispiel angesichts des Kriegs gegen die Ukraine oder der Situation auf dem Westbalkan. Ein Thema wird auch der Einsitz der Schweiz im Uno-Sicherheitsrat in den nächsten zwei Jahren sein: Die EU ist hier an einer engen Zusammenarbeit interessiert, wohl auch weil sie seit dem Brexit nur noch ein ständiges Mitglied im Sicherheitsrat hat (Frankreich; Anm. d. Red.).

NZZ: Die bilaterale Beziehungskrise wird kein Thema sein?

Frau Leu: Nicht direkt, aber wir hoffen, dass die gute Zusammenarbeit in der Aussenpolitik hilft, das bilaterale Verhältnis zu verbessern. Sie zeigt in aller Deutlichkeit, dass wir dieselben Interessen und Werte haben. Gerade in der unsicheren geopolitischen Lage, in der wir uns befinden, ist der Zusammenhalt in Europa entscheidend.

NZZ: Die tschechische EU-Rats-Präsidentschaft hat Bundespräsident Cassis an die erste Zusammenkunft der «europäischen politischen Gemeinschaft» eingeladen. Sind die Pläne für die Schweiz von Interesse?

Frau Leu: Vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine gibt es Bewegung in dieser Diskussion. Das ist auch für die Schweiz interessant, auch wenn solche Ideen nicht neu sind. Früher drehte sich die Diskussion stets um Länder, die auf dem Weg zu einem EU-Beitritt sind. Jetzt ist die Perspektive offener. Neben der Schweiz ist auch Grossbritannien eingeladen. Wir dürfen uns aber keine Illusionen machen. Die EU schützt den Zugang zu ihrem Binnenmarkt stark, das wird kaum Teil einer solchen Gemeinschaft sein.

NZZ: Im Ukraine-Krieg sucht die Schweiz ihre Rolle. Russland sagt, sie sei nicht mehr neutral. Zu Recht?

Frau Leu: Nein. Die Übernahme der EU-Sanktionen ist mit der Neutralität vereinbar. Die Massnahmen gehen zwar weit und richten sich gegen ein ständiges Mitglied des Uno-Sicherheitsrats. Aber es ist bei weitem nicht das erste Mal, dass die Schweiz Sanktionen der EU übernimmt. Ein Land, das mit Sanktionen belegt wird, ist darüber nie erfreut.

NZZ: Der Bundesrat hat den jüngsten Neutralitätsbericht zurückgewiesen. Weshalb tut sich die Schweiz so schwer damit, die Neutralität im In- und Ausland zu erklären?

Frau Leu: Der Bundesrat hat den Neutralitätsbericht nicht zurückgewiesen. Er wird überarbeitet und im Herbst veröffentlicht. Der rechtliche Kerngehalt der Neutralität ist begrenzt, während der Bundesrat die Neutralitätspolitik flexibel den Umständen anpassen kann. Andere Länder haben oft Mühe, die Neutralität zu verstehen. Ich stelle generell fest, dass es nicht einfach ist, die Schweiz im Ausland zu erklären. Wir sind ein spezielles Konstrukt. Niemand versteht zum Beispiel, warum wir jedes Jahr einen anderen Präsidenten haben.

NZZ: In den hektischen Tagen nach dem Kriegsbeginn entstand der Eindruck, dass der Bundesrat selber nicht genau weiss, welche Neutralitätspolitik er verfolgen will.

Frau Leu: Ich möchte nicht behaupten, dass kommunikativ alles perfekt lief. Aber man muss doch sehen, dass der Bundesrat innerhalb von vier Tagen entschieden hat, die Sanktionen der EU zu übernehmen. Bei einem Sanktionsregime habe ich noch nie einen derart schnellen Entscheid gesehen.

NZZ: Wird die Neutralität im Ausland noch verstanden?

Frau Leu: Die Neutralität bleibt ein Markenzeichen der Schweiz, das grundsätzlich positiv wahrgenommen wird. Am schwersten tut sich damit unsere Nachbarschaft, die andere Prioritäten hat. Für sie steht das Zusammenwachsen Europas im Vordergrund, während die Neutralität auch einen eigenständigen Kurs bedeutet. Neutralität ist und bleibt ein wichtiges Instrument der Schweizer Aussenpolitik.

NZZ: Ein Konflikt zwischen China und Taiwan ist ein realistisches Szenario. Die Seco-Staatssekretärin Marie-Gabrielle Ineichen Fleisch hat vor ihrem Rücktritt gesagt, die Schweiz würde allfällige Sanktionen der EU übernehmen. Sehen Sie das auch so?

Frau Leu: Bei dieser Frage handelt es sich um einen weitreichenden Entscheid des Bundesrats. Ich kann diesen auf meiner Stufe nicht präjudizieren.

NZZ, 13. September 2022.


«Bei dieser Hauruck-Gesetzgebung bleibt zu viel unklar»

Rechtsprofessor Alain Griffel hält das neue Gesetz für den Bau alpiner Solarkraftwerke – die «Lex Grengiols» – für verfassungswidrig und untauglich. Er hat einen anderen Vorschlag, um Naturschutz und Versorgungssicherheit zu versöhnen.

Ein vom Parlament in diesen Tagen verabschiedetes dringliches Gesetz soll grosse Solaranlagen in den Alpen möglich machen. Konkret sind solche in Grengiols VS oder oberhalb von Gondo VS.

Der Bund: Sie haben im Zusammenhang mit der «Lex Grengiols» von einem «Putsch» gegen Umweltrecht und Verfassung gesprochen. Unterdessen hat der Nationalrat korrigiert. Ist das bereinigte Gesetz nun vereinbar mit der Verfassung?

Griffel: Ich stehe dazu: Der Ständerat hat jegliche Fesseln abgelegt und jedes Bewusstsein dafür verloren, dass er eigentlich die Verfassung hüten soll. Die vom Nationalrat korrigierte Version ist weniger dramatisch, aber es hat immer noch zahlreiche Punkte drin, die mit der Bundesverfassung nicht vereinbar sind. Insgesamt ist das derzeitige Verhalten des Parlaments für mich Ausdruck einer Allmachtsfantasie. Es meint offenbar, ohne Schranken alles tun zu können.

Der Bund: Beginnen Sie mit dem gravierendsten Punkt …

Griffel: Jeder Verfassungsbruch ist gravierend. Aber zuoberst auf der Liste steht für mich dieser Punkt: Das Gesetz sieht vor, dass der Bau von alpinen Solaranlagen allen anderen Interessen «grundsätzlich vorgeht». Aber: Der Natur- und Heimatschutz-Artikel in der Verfassung verlangt bei Landschaftsschutzobjekten von nationaler Bedeutung die «ungeschmälerte Erhaltung» oder jedenfalls die «grösstmögliche Schonung». Falls dem andere Interessen entgegenstehen, verlangt die Verfassung eine umfassende Interessenabwägung. Nun kann das Parlament nicht einfach ein Anliegen als generell übergeordnet bezeichnen. Das könnte nur die Verfassung selbst.

Der Bund: Was bedeutet «umfassende Interessenabwägung»?

Griffel: Beim Bau von Kraftwerken bestehen ja immer mehrere verschiedene öffentliche Anliegen. Alle sind auf die Verfassung zurückzuführen. Dazu zählen eine sichere und klimaneutrale Stromversorgung oder der Schutz von Natur und Landschaft. Nicht alle Interessen können aber zu hundert Prozent berücksichtigt werden. Sie müssen gegeneinander aufgewogen werden, um insgesamt ein Optimum herauszuholen. Aber das ist nur im Einzelfall möglich, also bei einem konkreten Projekt. In Streitfällen müssen dann Gerichte urteilen.

Der Bund: Sagen Sie damit, dass das Parlament seine Kompetenzen überschreitet?

Griffel: Genau. Das Parlament nimmt etwas vorweg, was eine Verwaltungsbehörde im Einzelfall prüfen soll und was dann allenfalls ein Gericht entscheiden muss. Etwa dann, wenn Betroffene oder Umweltverbände gegen ein Projekt Beschwerden einlegen.

Der Bund: Aber in Mooren ist eine Interessenabwägung nicht möglich: Der Moorschutz gilt absolut.

Griffel: Ja, Volk und Stände haben das mit der Annahme der Rothenthurm-Initiative 1987 in die Verfassung geschrieben. In den übrigen Schutzgebieten aber muss die Interessenabwägung vorgenommen werden. Alles andere widerspricht der Verfassung und damit dem Volkswillen.

Der Bund: Sie kritisieren an der «Lex Grengiols» auch, das Parlament greife in die Kompetenzen der Kantone ein. Erklären Sie.

Griffel: Der Nationalrat befreit Solargrossanlagen von der Planungspflicht. Präziser: Es muss dafür keine raumplanerische Grundlage mehr geschaffen werden. Für die Raumplanung sind aber die Kantone zuständig. Auch hier verhält sich das Parlament also übergriffig.

Der Bund: Die Mehrheit des Parlaments sieht das anders und will die «Lex Grengiols» schon in den nächsten Tagen in Kraft setzen, weil der Ausbau der Stromversorgung dringend ist.

Griffel: Das Argument leuchtet mir nicht ein: Das Gesetz taugt nicht dafür, eine allfällige Strommangellage in diesem Winter abzuwenden. Denn die Kraftwerke, die das Gesetz ermöglichen soll, gehen frühestens in ein paar Jahren ans Netz. Aber ohne gut begründete Dringlichkeit sehe ich hier einen weiteren Verfassungsbruch. Das Gesetz müsste zudem einem obligatorischen Referendum unterstellt werden, weil die Vorlage inhaltlich gegen die Verfassung verstösst. Volk und Stände müssen darüber entscheiden können. Am anderen Ende dieser Denkweise, wirklich ganz am anderen Ende, stehen Putin und Lukaschenko.

Der Bund: Der Ausbau der erneuerbaren Energieproduktion wurde jahrzehntelang durch Natur- und Landschaftsschützer immer nur blockiert. Jetzt gehört doch der Versorgungssicherheit der Vorrang.

Griffel: Das ist ein Scheinargument. Ich mache ein Beispiel: Wer ist schuld, wenn ein Nachbar im Beschwerdeverfahren ein Bauprojekt zu Fall bringt? Der Nachbar oder der Bauherr, dessen Bauprojekt als rechtswidrig beurteilt wurde? Und so ist es auch bei Kraftwerkprojekten: Umweltorganisationen können ja nur eine gerichtliche Überprüfung herbeiführen. Ein rechtskonformes Projekt würde dem standhalten.

Der Bund: Widersprüche zur Verfassung gibt es auch in anderen Gesetzen. Das Volk hat auch schon Initiativen zugestimmt, die Verfassungsartikeln widersprechen. Warum soll das nicht auch hier möglich sein? Gerade wenn die Versorgungssicherheit auf dem Spiel steht?

Griffel: Gegenfrage: Soll man die Verkehrsregeln «ein bisschen» übertreten dürfen? Soll man auch seine Frau «ein bisschen» schlagen dürfen? Und warum soll man ausgerechnet die Verfassung – also die rechtliche Grundordnung unseres Staates – verletzen dürfen? Das passt zu einer Bananenrepublik, aber nicht zu einem Rechtsstaat. Am anderen Ende dieser Denkweise, wirklich ganz am anderen Ende, stehen Putin und Lukaschenko. Sie machen einfach, was ihnen passt. Verfassung und Recht ist dazu da, die Macht der Politik zu begrenzen.

Der Bund: Wenn die «Lex Grengiols» der Verfassung widerspricht – was sind die Folgen? Was wird jetzt passieren?

Griffel: Zunächst: Was das Parlament beschliesst, gilt – auch wenn es der Verfassung widerspricht. Auch das steht übrigens so in der Verfassung. Aber: Bei dieser Hauruck-Gesetzgebung bleibt so viel unklar. Und je unklarer die Regelungen sind, desto mehr zwingt man Betroffene und Verbände, mit ihren Anliegen ans Bundesgericht zu gelangen, um die Widersprüche zur Verfassung oder zu anderen Gesetzen zu klären. Das Gesetz wird unzählige neue Verfahren und Streitfälle generieren, mit den entsprechenden Verzögerungen.

Der Bund: Bedeutet das, für den Bau der Kraftwerke und die Versorgungssicherheit ist mit dem Gesetz gar nichts gewonnen?

Griffel: Ja, überhaupt nichts. Wenn es den Haudegen im Parlament so gelingt, das Umweltrecht wieder auf den Stand von vor fünfzig Jahren zurückzustutzen, wird das heftigen Widerstand provozieren. Wir werden in den Alpen wieder Protestcamps haben, als einzige noch mögliche Widerstandsform. Dann kann man Lukaschenko und Putin fragen, wie man diese am besten wegknüppelt.

Der Bund: Da wollen wir nicht hin.

Griffel: Eben. Da sind mir die komplizierten und halt langwierigen Rechtsverfahren weitaus lieber. Die Auseinandersetzungen, die bis zu einem gewissen Grad unvermeidbar sind, finden heute zumindest in diesem geordneten Rahmen statt.

Der Bund: Ist Ihnen auch lieber, dass uns der Strom ausgeht?

Griffel: Nein, natürlich nicht. Aber es gibt andere Wege, um Rechtsstaat und Versorgungssicherheit unter einen Hut zu bringen.

Der Bund: Welche?

Griffel: Es braucht zuerst eine umfassende, schweizweite Auslegeordnung: Wo und wie gewinnen wir am besten und am effizientesten erneuerbare Energien?

Der Bund: Das ist eine technische Frage.

Griffel: Richtig, da bin ich nicht der Fachmann. Aber wenn das beantwortet ist, müssen wir klären, wie sich die sinnvollsten Projekte am besten mit den Anforderungen des Natur- und Landschaftsschutzes vereinen lassen.

Der Bund: Bundesrätin Simonetta Sommaruga hat das mit dem Runden Tisch Wasserkraft ja bereits versucht.

Griffel: Ja, das ist ein guter Anfang. Frau Sommaruga hat die Umweltverbände und die Stromproduzenten zusammengebracht und die Diskussion moderiert. Aber wir müssen die Debatte wegholen von einzelnen Projekten wie Grengiols und im ganzen Land offen nach den besten Lösungen suchen. Erst wenn wir das gemacht haben, können wir die Frage beantworten, ob ein Ausbau der erneuerbaren Energien unter Wahrung von Natur- und Landschaftsschutz möglich ist. Der Bund, 29. September 2022.


Hilferuf vom Breithorn

Paradoxe Situation im Parlament: Eine rechtsbürgerliche Lobby treibt den Ausbau der erneuerbaren Energien mit ungekannter Dringlichkeit voran. Was steckt dahinter?

Ende letzter Woche machte sich ein Brief mit brisantem Inhalt auf den Weg. Vom Bergrücken des Oberwalliser Breithorns runter ins Tal, durch den Lötschberg nach Bern und rein ins Parlament. Schliesslich ins Postfach von Nationalratspräsidentin Irène Kälin. Ein Brief, verfasst von einer Bauernfamilie, deren Alp einem dieser grossen, glitzernden Projekte zu weichen droht, die der Schweiz die Energiewende bringen sollen. Ein Brief, der quer liegt zur neuen hochenergetischen Stimmung in Bundesbern. Wo in der Energiepolitik plötzlich alles möglich erscheint, was jahrelang blockiert war. Wo endlich alles rundläuft – oder etwa doch nicht?

Dringlichkeit verdrängt Debatte

Peter Grabers* frühste Erinnerung an die Alp Furggen hoch über der kleinen Gemeinde Grengiols ist, wie er als siebenjähriger Bub das erste Mal mit den Kühen hilft. Er hat seinen Vater und seinen Grossvater auf der Alp arbeiten sehen. Heute ist Graber sechzig Jahre alt. Er hofft, dass bald seine Kinder die Bewirtschaftung der Alp übernehmen. «Es wird schon jemand weitermachen», sagt er. Aber ob es dazu kommt, kann er kaum beeinflussen. Das entscheidet sich in diesen Tagen auch im Parlament in Bern.

Dort ist gerade Herbstsession, der Fokus liegt auf der wackligen Energieversorgung. Entsprechend hektisch ist der Betrieb. Bewährte Massstäbe gelten nichts mehr, Dringlichkeiten verdrängen Debatten. Vor allem aus dem Ständerat kommen immer neue Vorschläge. Angekoppelt an den Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative, soll einerseits eine Solarpflicht für Neubauten kommen, andererseits der Bau von Solargrossanlagen beschleunigt werden. Keine Umweltverträglichkeitsprüfung mehr, keine Planungspflicht. Alle Regulierungen, die für den von der Verfassung verlangten Ausgleich der Interessen sorgen sollen: pulverisiert.

Das Gesetz ist auf zwei Grossprojekte zugeschnitten, die in Planung oder angekündigt sind. Beide liegen im Wallis, eines davon in Grengiols. Auf der Alp Furggen soll im Winter 2023/24 die grösste Solaranlage im Alpenraum in Betrieb gehen. Hunderte doppelseitige Fotovoltaikmodule würden dann meterhoch auf Stelen aus dem Boden ragen und gemäss Angaben der Initiant:innen um den umtriebigen ehemaligen SP-Präsidenten und heutigen Hotelier Peter Bodenmann bis zu zwei Terawattstunden Strom pro Jahr liefern – drei Prozent des nationalen Stromverbrauchs. Noch ist jedoch vieles unklar: Wie wird das Material auf die Alp geschafft? Ist der Baugrund überhaupt geeignet? Wie kann die Anlage ans Netz angeschlossen werden? Doch mit dem neuen Gesetz könnte trotzdem drauflosgebaut werden, sobald die Gemeinde damit einverstanden ist. Selbst den bundesrätlichen Segen hat «Grengiols Solar». «Wir wissen alle, dass ein ordentliches Bewilligungsverfahren Zeit braucht», sagte Simonetta Sommaruga in der Debatte. Bedenken gegen das Vorgehen wischte sie mit dem Hinweis auf die einträchtige Unterstützung im Dorf vom Tisch.

Powerplay der Lobbyisten

Milchbauer Peter Graber sagt dagegen, Bodenmann habe dem armen Dorf so viel Geld versprochen, «da traut sich niemand, dagegen zu sein». Er enthielt sich an der Gemeindeversammlung, als konsultativ über die Solaranlage abgestimmt wurde, «ich will ja nicht das ganze Dorf gegen mich haben». Seine Situation findet in der laufenden politischen Debatte keine Erwähnung. Auch nicht in all den bewundernden Reportagen aus Grengiols, die seit der Ankündigung des Projekts erschienen sind. «Der Grund, Ihnen diesen Brief zu schreiben, ist eine verzweifelte Hoffnung, auf unsere Existenz als Bewirtschafter aufmerksam zu machen», schreibt er an Irène Kälin. Sein Schicksal ist noch nicht mal ein Kollateralschaden in der laufenden Diskussion um einen schnellen Zubau der Erneuerbaren.

«Ich bin völlig baff», sagt FDP-Nationalrat Kurt Fluri, angesprochen auf die Dynamik, mit der Energieprojekte vom Ständerat vorangetrieben werden. Er meint das nicht im positiven Sinn. Fluri, auch Präsident der Stiftung Landschaftsschutz, klagt: «Wir erleben einen umweltrechtlichen und staatsrechtlichen Irrsinn. Die Umwelt wird der Lynchjustiz ausgeliefert.» Fluri hat als Treiber der bedenklichen Entwicklung den Walliser Mitte-Ständerat Beat Rieder, der die Interessen der Gebirgskantone vertrete, ausgemacht. Und seinen FDP-Kollegen Ruedi Noser, der für die Wirtschaft agiere. Es sind neue Kräfte, die für die erneuerbaren Energien weibeln. Nicht links-grüne, sondern rechtsbürgerliche. Dahinter stecke eine gewisse Panik, sagt Fluri, dass der Winterstrom nicht reiche, «aber es geht auch ums Geld und darum, den verhassten Umweltverbänden eins reinzubremsen».

Das Powerplay von Rieder und Noser ist so aggressiv, dass sich selbst Solarlobbyorganisationen davon distanzieren. «Der Gesetzesentwurf entstand ohne Rücksprache mit uns», sagt David Stickelberger, Geschäftsleiter des Branchenverbands Swissolar. Er befürchtet einen Imageschaden für die Solarenergie. Beim Projekt in Grengiols ist er skeptisch: «Es gibt bisher keine Planung, da hat einfach jemand ein Rechteck auf eine Landkarte gezeichnet.» Doch das reicht schon im Krisenjahr 2022, um zum Hoffnungsträger für die schnelle Energiewende zu werden.

Das atemberaubende Tempo, in dem nun die erneuerbare Stromproduktion ausgebaut werden soll, steht im Kontrast zum jahrelangen Stillstand. Doppelt paradox: «Denselben Leuten, die früher auf der Bremse standen, kann es heute nicht schnell genug gehen», stellt SP-Umweltpolitikerin Martina Munz fest. Die drohende Stromlücke scheint die perfekte Gelegenheit zu bieten, an neue Subventionen zu gelangen und störende Regularien zu beseitigen. Das Rennen dafür ist eröffnet. Der fleissige Lobbyist Rieder fordert schon neue Subventionen für Stromfirmen zum Ausbau der Wasserkraft, obwohl dort ohne massive Eingriffe in die Natur kaum Potenzial für neue Kraftwerke besteht.

«Verfassungswidrig»

Rieders Parteikollegin aus Luzern, Mitte-Nationalrätin Priska Wismer, vertritt derweil als Vizepräsidentin der Lobbyorganisation Suisse-Eole die Interessen der Windenergie. «Solar hat es vorgemacht, jetzt haben auch die Vertreter der anderen Energieträger gemerkt, dass etwas drinliegt», sagt sie. Wismer verlangt, dass vom Bundesgericht bewilligte Projekte sofort realisiert werden können, ohne weitere Einsprachemöglichkeit. So könnten neun bis zehn derzeit blockierte Windkraftparks in den nächsten Jahren gebaut werden.

Allerdings steht nun das Bundesamt für Justiz auf der Bremse: In einem Gutachten hat es festgestellt, dass die «Solaroffensive» mit ihrem Aushebeln der Bewilligungsmechanismen gegen die Verfassung verstösst. Damit müsste – zieht das Parlament die Sache durch – die Stimmbevölkerung zwingend über die Solaroffensive abstimmen. Für den Walliser Bergbauern Peter Graber ist das ein Erfolg. Auch wenn noch unklar ist, ob für «Grengiols Solar» nicht doch noch ein Türchen aufgeht. Dass er aber auf seiner Alp bleiben, seine fünfzig Kühe und vierzig Jungtiere auch weiterhin auf der Schulter des Breithorns sömmern kann, ist gleichwohl unwahrscheinlich. Nachdem sein Brief die Runde im Nationalrat gemacht hatte, erhielt Graber einen Anruf von Grengiols’ Gemeindepräsidenten Armin Zeiter, einem energischen Befürworter des Projekts. Zeiter offenbarte Graber, er sei sehr enttäuscht von ihm. Dann erklärte er ihm, die Bewirtschaftung der Alp werde neu ausgeschrieben. «Das Land gehört der Bürgergemeinde, und es gibt noch weitere Interessenten», begründet Zeiter auf Anfrage kühl. WOZ, 22. September 2022, S. 3.


Schwedens Nato-Beitritt : 73 Bauernopfer

Um der Nato beitreten zu können, hat Schweden der Türkei weitgehende Konzessionen gemacht. Wie es scheint, bekommen die Kurd:innen im Land diese nun mit aller Härte zu spüren. Schweden und Finnland wollen in die Nato, und dafür schrecken die beiden Länder auch vor den ganz grossen Konzessionen an den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan nicht zurück. Ein Beitritt muss von den Mitgliedern des Bündnisses einstimmig gutgeheissen werden – und das Mitglied Türkei lässt sich sein Ja teuer bezahlen. Die Liste der Konzessionen, die Ankara am Nato-Gipfel Ende Juni in Madrid aushandeln konnte, ist lang. Alle aber haben sie eines gemeinsam: Sie dienen Erdogans Krieg gegen die kurdische Bewegung. Einschränkungen von Waffenlieferungen in die Türkei, die nach ihrer Invasion in Rojava 2019 beschlossen wurden, werden fallen gelassen; die beiden Länder verpflichten sich, zukünftig keine Rüstungsembargos gegen die Türkei zu verhängen; und obendrein verkaufen die USA der Türkei vierzig neue F16-Kampfflugzeuge und rüsten Jäger auf, die die Türkei von den USA gekauft hatte. Der Jet wurde gegen Rojava, die Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien, eingesetzt.

Wirklich Routineprozesse?

Mit einer der Abmachungen opfern Schweden und Finnland gar einen Teil ihrer eigenen Bevölkerung Erdogans Machtpolitik: Die tür¬kische Delegation hatte am Nato-Gipfel klargemacht, dass ihr Ja zum finnischen und besonders zum schwedischen Nato-Beitritt davon abhängen würde, ob politische Flüchtlinge an die Türkei ausgeliefert würden. Diese Abmachung trifft vor allem Kurd:innen in Schweden, wo ihre Community besonders gross ist.

Nach den Verhandlungen in Madrid sagte Erdogan an einer Medienkonferenz, dass sich Schweden zur Auslieferung von 73 Personen bereit erklärt habe. Ein Dementi gab es aus Stockholm nicht – nur einen Kommentar, wonach man sich an Gesetze halten werde.

In Schwedens kurdischer Diaspora geht nun die Angst um.

Nun scheinen sich die ersten Folgen des Deals zu zeigen. Mitte August kündigte die schwedische Regierung an, einen wegen Kreditkartenbetrug verurteilten kurdischen Türken ausliefern zu wollen – eine «Routineangelegenheit», wie Justizminister Morgan Johansson sagte. Die Auslieferung eines normalen Kriminellen? Gemäss Recherchen des öffentlich-rechtlichen Senders SVT wurde der Mann fälschlicherweise verurteilt. Zudem war er aufgrund seiner Konvertierung zum Christentum und seiner Militärdienstverweigerung zuvor in Italien als Flüchtling anerkannt worden.

Eine Woche nach der Regierungs¬ankündigung wurde in Schweden der kurdische Flüchtling Zinar Bozkurt festgenommen. Bei der Beantragung des Asyls hatte Bozkurt vor acht Jahren seine Homosexualität, seine kurdische Identität und seine Unterstützung der linken Partei HDP als Fluchtgrund angegeben. Nachdem ihm die schwedische Sicherheitspolizei Säpo Kontakte zur PKK unterstellt hatte, wurde der Antrag von der Migrationsbehörde zurückgewiesen – zu einer Auslieferung kam es vorerst jedoch nicht. «Warum die Polizei beschloss, dass Zinar ein Sicherheitsrisiko für Schweden darstelle, und warum der Fall überhaupt bei der Säpo landete, ist uns unklar», sagt sein Anwalt Miran Kakaee gegenüber der WOZ. Die Säpo will auf Anfrage nichts sagen.

Sind die beiden Fälle also wirklich Routineprozesse, wie das schwedische Justizministerium behauptet? Die aktuelle Häufung möglicher Auslieferungen spreche eine andere Sprache, sagt Kakaee. In den letzten dreis¬sig Jahren habe Schweden gerade einmal fünf Personen an die Türkei ausgeliefert; zudem sei die Auslieferung von Leuten mit politischem Profil unüblich. Von den bisher 33 Auslieferungsgesuchen aus Ankara wurden 19 abschlägig beantwortet, 5 wurden nicht beantwortet, und bei 9 Fällen ist die Entscheidung noch hängig. «Vielen der Betroffenen droht in der Türkei Folter», begründet Kakaee die bisherige Zurückhaltung Schwedens. Bei 28 der 33 Gesuche gehe es um zumindest mutmassliche Mitglieder der PKK, anderer linker Gruppen oder der Gülen-Bewegung.

Ein Präzedenzfall?

In Schwedens kurdischer Diaspora geht nun jedoch die Angst um. Kakaee sagt, dass sich derzeit viele seiner Man¬dan¬t:in¬nen bei ihm erkundigen würden, was die Nato-Absprachen für sie bedeuteten. Dass unter Kur¬d:in¬nen in Schweden die Furcht umgeht, bestätigt auch Ridvan Altun vom Kurdischen Zentrum für eine demokratische Gesellschaft: «Wir Kur¬d:in¬nen sind vor Erdogans Unterdrückung nach Europa geflüchtet. Und jetzt werden wir auf türkischen Druck hin auch hier verfolgt.»

Seit seiner Festnahme befindet sich Zinar Bozkurt im Hungerstreik. «Zinars Fall ist in die Mühlen der Nato-Beitrittsverhandlungen geraten», sagt sein Anwalt Kakaee. Selbst wenn seine Verhaftung keine Folge der Nato-Verhandlungen wäre: «Der Ausgang der Sache wird auch politische Folgen haben» – die Auslieferung könnte zum Präzedenzfall werden. Derweil droht Erdogans Regierung weiter damit, die Beitrittsgesuche aus Europas Norden abzuschiessen, sollten ihre Forderungen nicht erfüllt werden. WOZ, 8. September 2022, S. 12


Die Schweiz und der EuGH: Alle Modelle müssen vorurteilslos analysiert werden

In den Beziehungen zur EU schliesst der Bundesrat das einzige bereits funktionierende Modell – den EWR – diskussionslos aus. Stattdessen träumt man von einer Konfliktlösung nach dem Vorbild des Zollsicherheitsabkommens oder von einem «Ukraine»-Modell.

Als das Vereinigte Königreich und die EU am Heiligabend 2020 den Durchbruch erzielten, der zum Abschluss des Handels- und Kooperationsabkommens (TCA) führte, waren selbst glühende Schweizer InstA-Freunde verunsichert. Den Briten war es gelungen, trotz enormem Druck der Kommission und obwohl die Regierung May im Chequers-Plan vom Juli 2018 entsprechende Zusagen gemacht hatte, jede Zuständigkeit des EuGH zu vermeiden. Das TCA enthält sogar zwei Vorschriften, welche eine solche Kompetenz ausdrücklich ausschliessen, etwas, was in einem Abkommen dieser Art absolut unüblich ist. Stattdessen sieht das TCA klassische Schiedsgerichte vor, die im Konfliktfall entscheiden.

Falsche Schlussfolgerungen in der Schweiz

Die helvetischen InstA-Befürworter sagten in der Folge, die Lage der Schweiz sei mit der des Vereinigten Königreichs nicht vergleichbar. Während Letzteres aus dem Binnenmarkt ausgeschieden sei, gehe es für die Schweiz darum, ihrer Wirtschaft den privilegierten Zugang zum Binnenmarkt zu sichern. Wer aber den privilegierten Zugang haben wolle, der müsse den EuGH als oberste Instanz anerkennen. Dass das im InstA-Entwurf vorgesehene «Schiedsgericht» praktisch jede bedeutungsvolle Frage dem EuGH zur verbindlichen Entscheidung übersenden müsse, sei nur «logisch».

Dieser Schluss war schon deshalb falsch, weil die drei EWR/Efta-Staaten Norwegen, Island und Liechtenstein einen sehr viel breiteren Zugang zum Binnenmarkt haben als die Schweiz bisher angestrebt hat, ohne dem EuGH unterstellt zu sein. In Wahrheit war das «Schiedsgerichtsmodell», das den Assoziationsverträgen der EU mit den postsowjetischen Republiken Ukraine, Georgien, Moldau und Armenien entnommen war, als Point of no Return auf dem Weg zu einem EU-Beitritt gedacht.

Mit der Anerkennung des EuGH hätte die Schweiz entgegen anderslautenden Behauptungen auch die faktische Überwachungskompetenz der Europäischen Kommission akzeptiert. Ursprünglich, im Jahr 2013, wollte der Bundesrat gar die direkte Entscheidungungsmacht des EuGH vertraglich verankert wissen. Als der Widerstand dagegen zu gross wurde, setzte man ab 2018 auf den Mechanismus mit dem Pro-forma-Schiedsgericht.

Nach der Beendigung der InstA-Verhandlungen im Mai 2021 hat der Bundesrat (wie schon 2013) auf die Erstellung einer Auslegeordnung verzichtet und nach einer kurzen Verschnaufpause ein «vertikales» Modell aus dem Hut gezaubert. Danach sollen die Fragen der Überwachung und der Konfliktlösung nicht mehr generell, sondern in den einzelnen Abkommen individuell geregelt werden.

Gleichzeitig will man die Verhandlungsmasse vergrössern (Bilaterale III) und winkt mit einem Kohäsions-Check. Was die konkreten Mechanismen angeht, so hält sich Bern bedeckt. Das einzige bereits funktionierende Modell – den EWR – will der Bundesrat freilich ohne Diskussion ausschliessen. Stattdessen träumt man zum einen davon, die EU könnte zu einer politischen Konfliktlösung nach dem Vorbild des Zollsicherheitsabkommens von 2009 Hand bieten. Zum anderen geistert das «Ukraine»-Modell nach wie vor in den Berner Köpfen herum. Bei der Erweiterung der Verhandlungsmasse wird man den Eindruck nicht los, es gehe darum, das Fuder so hoch zu laden, dass Volk und Ständen nichts anderes übrigbleibt, als Ja zu sagen.

Es geht um völkerrechtliche Konflikte

Dass die EU dem Mechanismus des Zollsicherheitsabkommens zustimmen wird, ist praktisch schon mit Rücksicht auf die EWR/Efta-Staaten Norwegen, Island und Liechtenstein ausgeschlossen. Das «Ukraine»-Modell bedeutet Unterstellung unter das Gericht der Gegenseite. Artikel 13 im EU-Vertrag bezeichnet den EuGH ausdrücklich als Organ der EU. Damit fehlt ihm der Schweiz gegenüber die Parteineutralität. Das erinnert an die ungleichen Verträge («unequal treaties»), die die imperialistischen Mächte im 19. Jahrhundert China und Japan aufgezwungen haben. In China und in Japan gab es damals je ein britisches Gericht, in China auch ein amerikanisches. Die heutige Abneigung Chinas gegen den Westen hat ihren Grund (auch) in diesen Abkommen.

Gegen die hier vertretene Position kann man nicht einwenden, Schweizer Unternehmen, die auf dem EU-Markt tätig seien, unterständen bereits heute der Zuständigkeit von Kommission und EuGH. Dass ausländische Unternehmen sich an die Rechtsordnung des Staates bzw. der internationalen Organisation zu halten haben, auf deren Markt sie Geschäfte machen, ist eine Selbstverständlichkeit.

Schweizer Firmen haben wegen Kartellrechtsverstössen über die Jahre und Jahrzehnte Brüssel enorme Summen bezahlt. Umgekehrt sind in der Schweiz Firmen aus dem EU-Raum wegen solcher Rechtsverletzungen gebüsst worden. Auch die UBS Schweiz hätte die Kompetenz des EuGH anerkennen müssen, wenn die Grossbank in ihrem Geldwäschereiprozess vor den französischen Gerichten einen Antrag auf Einholen einer Vorabentscheidung des EuGH zur Auslegung des Zinsbesteuerungsabkommens Schweiz - EU gestellt hätte.

Bei den Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU geht es jedoch um völkerrechtliche Konflikte. Dass der EuGH z. B. in einem Fall Schweizer Bauern recht gegeben hat, die als selbständige Grenzgänger Ackerland in Deutschland bewirtschafteten, ist vollkommen irrelevant. Es gibt nur ein einschlägiges Präjudiz, den Fall des Flughafens Zürich. Und den hat die Schweiz mit Pauken und Trompeten verloren. Das Gebot der guten Regierungsführung («good governance») erfordert, dass alle zur Verfügung stehenden Modelle vorurteilslos analysiert werden. Dazu gehört auch der EWR. Efta-Überwachungsbehörde und Efta-Gerichtshof wären für die Schweiz parteineutrale Institutionen mit je einem Schweizer Mitglied. Im Gegensatz zum Zollsicherheitsabkommen und zum «Ukraine»-Modell enthält das EWR-Recht mit dem Vorabentscheidungsverfahren auch ein Prozedere, das den Bürgern und Unternehmen eigene Rechte einräumt.

Es entspricht nicht demokratischer Tradition, dass alle Macht bei der Bundesverwaltung liegt. Gerade das wäre aber beim Ansatz des Zollsicherheitsabkommens und beim «Ukraine»-Modell der Fall. Auch das «Andocken» an die Institutionen des Efta-Pfeilers, die Efta-Überwachungsbehörde und den Efta-Gerichtshof, das die EU der Schweiz 2013 und dem Vereinigten Königreich 2018 offeriert hat, ist zu prüfen. Es würde die Beibehaltung des sektoriellen Ansatzes erlauben. Schliesslich ist auch denkbar, dass die Schweiz auf eine Institutionalisierung der bilateralen Verträge verzichtet. Hier ist aber auch zu überlegen, bis zu welchem Grad ein Systemwettbewerb mit der EU möglich wäre. Es gibt nämlich einen faktischen Zwang, EU-Recht zu übernehmen («Brussels effect»). Ob so oder anders: Das «vertikale» Modell des Bundesrates mit den angedachten Überwachungs- und Konfliktlösungsmechanismen und dem Hochladen des Fuders kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Carl Baudenbacher, NZZ, 2. September 2022, S. 19


Dringliches Energiegesetz - Wie Politiker den Verfassungsbruch rechtfertigen

Ein Rechtsexperte kritisierte, das Energiegesetz sei nicht verfassungskonform. Im Bundeshaus wird das gar nicht abgestritten. Die Dringlichkeit bei der Versorgungssicherheit sorge für einen Handlungszwang, wird jedoch argumentiert.

Das Parlament sei «ausser Rand und Band», kritisierte der Umweltrechtler Alain Griffel. Griffel sagt, dass das dringliche Gesetz für zwei neue grosse Photovoltaik-Anlagen in den Alpen und für die Aufstockung der Grimsel-Staumauer gleich mehrfach die Verfassung verletze.

Mit der Kritik sind nicht alle einverstanden. So auch Philipp Bregy, Fraktionschef der Mitte. «Ich mag diesen Terminus ausser Rand und Band gar nicht, weil er disqualifiziert das Parlament.» Er lese die Dinge anders und habe überhaupt keine Bedenken wegen der Verfassungsmässigkeit. «Ich erachte es als meine Pflicht als Parlamentarier, in einer solchen Krise die nötigen Entscheide zu treffen, um möglichst schnell aus dieser Krise herauszukommen», so Bregy.

Praktisch gleich argumentiert auch der Fraktionschef der SP, Roger Nordmann. «Wir sehen jetzt, dass die internationale Lage ganz schwierig ist.» Die Sprengung von beiden Nordstream-Pipelines zeige laut Nordmann, «dass wir auf längere Zeit ein Problem bei der Gasversorgung haben werden, das sich auf dem Strom widerspiegelt». Wir müssten daher rasch und massiv die Menge Winterstrom erhöhen, sagt der SP-Politiker.

Der Energie-Spezialist der SVP, Albert Rösti, gibt indes zu, dass das Gesetz möglicherweise nicht im Einklang mit der Verfassung sein könnte. «Selbstverständlich finden Sie einige Artikel in der Verfassung, wo man von einem Ritzen der Verfassung sprechen kann. Aber letztlich fühle ich mich hier als Parlamentarier, als Volksvertreter verantwortlich, dass es dereinst genügend Strom gibt. Und da mache ich, gestützt auf die Verfassung, eine Güterabwägung, die dieses Ziel erfüllen wird.»

Matthias Jauslin von der FDP sieht dies deutlich kritischer. Er teile die Kritik am Parlament und könne sie hundertprozentig nachvollziehen. «Ich habe schon immer gesagt: Das Parlament ist im Modus Hyperaktivismus, und das kommt nicht gut.»

Dem Prozess ebenfalls kritisch gegenüber eingestellt ist die Grüne Fraktionschefin Aline Trede. Auch ihrer Meinung nach verletzt das Gesetz die Verfassung. «Wir haben hier Dringlichkeiten angesprochen, die eigentlich gar keine Dringlichkeit verlangen. Wir haben Projekte in Bundesgesetze geschrieben, konkrete Projekte, die dort nichts zu suchen haben.» Dies sei nicht zielführend, so Trede. «Wir haben so viel erreicht in der Solar-Offensive. Dinge, die wir vor einem Jahr undenkbar hätten durchbringen können. Und ich glaube, es würde niemand verstehen, wenn wir jetzt da dagegen wären.»

Dem schliesst sich auch FDP-Mann Matthias Jauslin an. Niemand würde ein Nein verstehen. «Wir befinden uns jetzt in einer Sachzwangslage und werden nach der Schlussabstimmung diesem Gesetz so zustimmen im Wissen, dass wir nicht ganz auf Verfassungslinie sind.»

Aus: «Wie Politiker den möglichen Verfassungsbruch rechtfertigen», https://www.srf.ch/news/schweiz/dringliches-energiegesetz-wie-politiker-den-moeglichen-verfassungsbruch-rechtfertigenm 30. September 2022.

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