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Kurzinfos Mai 2023
Die Kantone einstimmig für Verhandlungen mit der EU? Hintergründe eines erstaunlichen Entscheids
Die Konferenz der Kantonsregierungen ermuntert den Bundesrat zu neuen Verhandlungen mit der EU. Selbst bekannte Rahmenabkommen-Skeptiker wie die Schwyzer und die Tessiner sagten Ja. Wie ist das möglich?
Als der Bundesrat Ende März 2023 in der Europafrage aus der Deckung kam und ankündigte, dass die zuständigen Departemente bis Ende Juni die Eckwerte eines Verhandlungsmandates erarbeiten sollen, verwies er prominent auf die Kantone. Die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) hatte ein paar Tage zuvor eine Aussprache zu den Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union geführt und sich einstimmig für neue Verhandlungen ausgesprochen. Die innenpolitische Akzeptanz sei dadurch gestärkt, teilte der Bundesrat beflügelt mit. Der Dialog mit den Kantonen habe es ermöglicht, sowohl für die staatlichen Beihilfen wie auch für die Zuwanderungsfragen Lösungsansätze zu definieren, die zu einem gemeinsamen Verständnis mit der EU geführt hätten, tönte es optimistisch.
Vom Paulus zum Saulus?
Manch einer dürfte sich da die Augen gerieben und sich gefragt haben, wie diese Einigkeit unter den Kantonen möglich ist. 2019 noch beurteilte die KdK den Entwurf eines institutionellen Rahmenabkommens in mehrfacher Hinsicht zurückhaltend, dies wegen der heiklen Punkte, die zwei Jahre später zum Scheitern des Rahmenabkommens führten und die auch heute noch heikel sind: dynamische Rechtsübernahme, Streitbeilegung, Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), staatliche Beihilfen. Dass vor allem die Nordwestschweizer Kantone und die Romandie seither unter der komplizierten Beziehung zur EU vorgeblich leiden und bei den Verhandlungen unbedingt vorwärtsmachen wollen, ist bekannt. Doch warum stimmen in der KdK nun plötzlich auch die Widerständler wie die Kantone Schwyz oder Tessin für neue Verhandlungen? Schliesslich haben beide Kantone ihrem Unmut über das geplante Rahmenabkommen in der Vergangenheit sehr offen Ausdruck gegeben.
So hielt die Schwyzer Regierung noch 2019 fest, «dass das Rahmenabkommen in der vorliegenden Form eine Einschränkung der direkten Demokratie bewirken würde. Zwar ist eine innerstaatliche Übernahme neuen EU-Rechts weiterhin vorgesehen. Parlamentsdebatten und Volksabstimmungen in den einschlägigen Bereichen würden teilweise jedoch zur Symbolik, weil eine Ablehnung Ausgleichsmassnahmen nach sich ziehen würde (...).» Einem solchen Konzept könne aus Sicht des Schwyzer Regierungsrates nicht zugestimmt werden. Auch die Tessiner Regierung äusserte sich 2021 klar negativ zur dynamischen Rechtsübernahme und zur Rolle, die der EuGH bei der Streitbeilegung spielen soll. Sind die Schwyzer und die Tessiner in der Europapolitik vom Paulus zum Saulus geworden?
Zwei Abstimmungen in der KdK
Was genau in den Plenarversammlungen der KdK abläuft, ist vertraulich. Jede Kantonsregierung schickt einen Vertreter an die Sitzungen, der mit einem Mandat seiner Regierung ausgestattet ist. Gut denkbar ist, dass bei den Sitzungen unter Amtskollegen eine eigene Dynamik entsteht und dass sich der eine oder andere Opponent im entscheidenden Moment zurückhält, weil er nicht den Spielverderber geben will. Demokratisch sind die Beschlüsse der KdK ohnehin schwachbrüstig, denn die Regierungen handeln eigenmächtig und ziehen das Kantonsparlament oder das Volk in der Regel nicht bei. So gesehen wäre es vermessen, die Stellungnahme der KdK als Position der Kantone schlechthin anzusehen.
In der Plenarsitzung vom März votierten sämtliche Kantonsvertreter für das Positionspapier, wie die KdK mitteilte. Als aber anschliessend darüber abgestimmt wurde, ob die KdK ihre Stellungnahme öffentlich machen soll, gab es auch ganz vereinzelt Nein-Stimmen. Widerstand kam etwa vom Schwyzer SVP-Finanzdirektor Herbert Huwiler. Die Schwyzer Regierung sei der Auffassung, dass Aussenpolitik Sache des Bundes sei und die Kantone sich nicht dazu äussern sollten, sagt er. Die KdK will zu dieser zweiten Abstimmung nichts sagen. Auf die Frage, wie viele Abweichler es gegeben habe, teilt sie mit: «Wir veröffentlichen Abstimmungsergebnisse nur mit ausdrücklicher Zustimmung der Plenarversammlung.»
Klar ist jedenfalls, dass es für EU-affine Aussenpolitiker ein Plus ist, wenn sie bei ihren Kontakten mit Brüssel auf den einhelligen Willen «der» Kantone verweisen können. Dasselbe gilt für den Bundesrat. Eine andere Frage ist, was die einstimmig gefasste Stellungnahme der Kantonsregierungen effektiv wert ist.
Unverfängliche Aussagen
Wenn man sich den verabschiedeten Text anschaut, fällt vor allem auf, wie allgemein gehalten er über weite Strecken ist. Offenkundig wählte man einen so hohen Abstraktionsgrad, weit von den kontroversen Einzelheiten entfernt, dass sich alle damit einverstanden erklären konnten. So heisst es in der Stellungnahme der KdK, dass man grundsätzlich bereit sei, einer dynamischen Übernahme von europäischem Recht zuzustimmen, unter dem Vorbehalt, dass sie gemäss dem innerstaatlichen Genehmigungsverfahren (Zustimmung Bundesrat, Parlament und Volk) erfolge. Dagegen kann man tatsächlich nicht viel einwenden. Die Kantonsregierungen haben allerdings gegenüber ihrer vorherigen Position nun beschlossen, dass sie auch im Bereich der Personenfreizügigkeit grundsätzlich bereit sind, eine dynamische Rechtsübernahme zu prüfen. Doch zur Frage, wie allfällige sich aus der Nichtübernahme von EU-Recht ergebende Konflikte geregelt werden sollten, erfährt man nichts.
Bei der Streitbeilegung teilt die KdK mit, dass eine Lösung akzeptiert werde, «bei welcher dem EuGH die Aufgabe zukommt, eine kohärente Auslegung des betroffenen EU-Rechts sicherzustellen.» Gewisse Bereiche sollen aber davon ausgenommen werden, wie der KdK-Präsident Markus Dieth auf Anfrage präzisiert. In den Abkommen gebe es Bestimmungen, die spezifisch auf das Verhältnis Schweiz - EU zugeschnitten seien und deshalb nicht der Interpretationshoheit des EuGH unterstünden.
Aufschlussreich ist die Stellungnahme der Tessiner Regierung, die sie Anfang März zuhanden der KdK verfasst hat. Daraus geht hervor, dass sich an der Einstellung der Tessiner zu den strittigen Punkten kaum etwas geändert hat. So anerkennt die Kantonsregierung, dass der Europäische Gerichtshof zwar für EU-Recht zuständig sei, dass man aber die Modalitäten klären müsse, gemäss denen der Gemischte Ausschuss oder ein Schiedsgericht die EuGH-Rechtsprechung berücksichtigen müssten. Auch zur Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie, über welche die Kantonsregierungen laut Dieth nun neu zu diskutieren bereit sind, äussern sich die Tessiner sehr skeptisch.
Man verstehe die KdK-Position als politisches Zeichen an die Adresse des Bundesrates, schreibt die Regierung des Südkantons. Auch die KdK selber legt sich nicht wirklich fest. So betont sie in ihrem Beschluss, dass die Bestandesaufnahme den Bund nicht davon entbinde, die Kantone über den Umfang und den Inhalt eines Verhandlungsmandats zu konsultieren. Kurz: Die vordergründige Einigkeit der Kantone scheint den Bundesrat ermuntert zu haben, sich europapolitisch zu bewegen. Wie solid die Unterstützung ist, ist eine andere Frage. NZZ, 17. Mai 2023, S. 8
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Das Zitat: Abschied von der Demokratie Der von hiesigen, pro-EU-Zeitungen bejubelte Robert Menasse hat, anders als seine Bewunderer, aus den Konsequenzen seines eurobeschränkten «Internationalismus» für die Demokratie nie ein Geheimnis gemacht. In seinem Europäischen Landboten schreibt er, die Demokratie sei «erst einmal zu vergessen, ihre Institutionen abzuschaffen, soweit sie nationale Institutionen sind, und dieses Modell einer Demokratie, das uns so heilig und wertvoll erscheint, weil es uns vertraut ist, dem Untergang zu weihen». Und: «Wir müssen stossen, was ohnehin fallen wird, wenn das europäische Projekt gelingt. Wir müssen dieses letzte Tabu der aufgeklärten Gesellschaften brechen: dass unsere Demokratie ein heiliges Gut ist» (Menasse 2012, Der Europäische Landbote, S. 98).
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Eine neue Epoche der Konfrontation Deutsch-französische Streitigkeiten verzögern gemeinsames Nachfolgeprojekt für den Leopard 2. Französische Experten sehen die bilateralen Beziehungen in einer tiefen Krise.
Das deutsch-französische Landkampfsystem MGCS, ein Nachfolgeprojekt für den Kampfpanzer Leopard 2, ist vom Scheitern bedroht. Wie das Deutsche Bundesverteidigungsministerium in einem vertraulichen Bericht einräumt, haben Differenzen zwischen Berlin und Paris schon heute, kaum sechs Jahre nach dem offiziellen Start des Vorhabens, zu „mehrjährigen Verzögerungen im ursprünglichen Programmplan“ geführt. Die eigentlich für 2035 geplante Fertigstellung sei „nicht mehr realisierbar“; zu rechnen sei mit einer Indienststellung des MGCS frühestens im Jahr 2040. Deutsche Panzerbauer legen inzwischen Alternativen vor – Rheinmetall etwa den Kampfpanzer Panther; darüber hinaus ist inzwischen auch eine weitere Modernisierung des bewährten Leopard 2 zum Leopard 2A8 geplant. Deutsch-französische Streitigkeiten prägen die europäische Rüstungsbranche auch jenseits des MGCS, so etwa beim Kampfjet der nächsten Generation (FCAS) oder bei Berlins Plänen für ein neues europäisches Flugabwehrsystem. In Paris weisen Experten darauf hin, dass sich die Bundesregierung im Ukraine-Krieg nicht Frankreich, sondern vielmehr den USA angenähert hat, und warnen vor einer innereuropäischen „Epoche der Konfrontation“.
„Systemumdenken“ in der Landkriegsführung
Die Arbeiten am Main Ground Combat System (MGCS) sind offiziell im Jahr 2017 gestartet worden. Das MGCS wird gewöhnlich als „Kampfpanzer der nächsten Generation“ bezeichnet – ein wenig verkürzend: In der Branche ist von einem qualitativen Sprung die Rede, ähnlich etwa demjenigen vom Propellerflugzeug zum Düsenjet. Ralf Ketzel, Geschäftsführer des Rüstungskonzerns Krauss-Maffei Wegmann (KMW), hat im Herbst ausdrücklich konstatiert, das Projekt werde „kein Panzer sein“.[1] Die Unterschiede seien groß; so solle nicht nur der Turm – der Ort mit der größten Gefahr, im Gefecht zu Tode zu kommen – künftig unbemannt sein; man plane darüber hinaus komplett neue Elemente wie Roboter und ferngesteuerte Überwachungsgeräte, die digital eng vernetzt seien und eine Art verbundenes Kampfsystem bildeten. Das MGCS, das in intensiver Kooperation mit den „Nutzern“ entwickelt werden solle – in der Praxis also wohl insbesondere mit der Deutschen Bundeswehr –, bringe ein weitreichendes „Systemumdenken“ in der Landkriegsführung mit sich. Ausführliche Strategien, die in diese Richtung weisen, hat das Deutsche Heer bereits vor Jahren entwickelt und auch öffentlich vorgelegt, darunter Konzepte, die Künstliche Intelligenz (KI) zur Kriegführung nutzen (german-foreign-policy.com berichtete [2]).
Mehrjährige Verzögerungen
Das MGCS ist explizit als deutsch-französisches Projekt konzipiert worden: zum einen, weil die Kosten extrem hoch sind – sie werden auf 100 Milliarden Euro geschätzt –, zum anderen, um die Verschmelzung der nationalen Waffenschmieden in der EU zu einer kontinentalen rüstungsindustriellen Basis voranzutreiben. Das gelingt bisher nicht; vielmehr ist die Zukunft des Vorhabens ungewisser denn je. Zur Umsetzung des Projekts haben Berlin und Paris vor Jahren den Zusammenschluss der Panzerbauer KMW (Deutschland) und Nexter (Frankreich) zu KNDS durchgesetzt; auch Rheinmetall (Deutschland) ist in das Vorhaben eingebunden. Kürzlich hieß es in einem vertraulichen Bericht des _Deutschen Bundesverteidigungsministeriums, auf vier von acht zentralen „Technologiefeldern“ sei immer noch nicht geklärt, welcher Konzern jeweils Hauptauftragnehmer werden solle.[3] Fordere die deutsche Seite bei „deutschen Schlüsseltechnologien“ eine „sichtbare Führungsrolle“ ein, gebe es in Frankreich gewichtige „Bedenken“ dagegen. Die „bislang strittigen Themen“ hätten „weiterhin keiner Lösung zugeführt“ werden können. Da es längst zu „mehrjährigen Verzögerungen im ursprünglichen Programmplan“ gekommen sei, sei die ursprünglich geplante Fertigstellung des MGCS im Jahr 2035 „nicht mehr realisierbar“. Man rechne nun frühestens 2040 damit.
Nationale Lösungen
Mittlerweile wird auch ein komplettes Scheitern des Projekts nicht mehr ausgeschlossen. So wurde kürzlich der Generalstabschef des französischen Heeres, Pierre Schill, mit der Aussage zitiert, für Paris sei die Herstellung eines Nachfolgemodells für den Kampfpanzer Leclerc eine „strategische Frage“; komme das MGCS auch weiterhin nicht vom Fleck, dann müsse es ein rein französisches Modell geben.[4] Der ehemalige Wehrbeauftragte des Bundestags, Hans-Peter Bartels (SPD), erklärte seinerseits: „Die deutsche Industrie braucht keine französische Unterstützung, um einen neuen Kampfpanzer zu entwickeln“. Auch zwischen den deutschen Konzernen KMW und Rheinmetall gibt es Streit. So ist Rheinmetall mit einem neuen Kampfpanzer vorgeprescht, der den – von einem Kampfpanzer der Wehrmacht übernommenen – Namen Panther trägt und womöglich in einem neuen Werk in der Ukraine gebaut werden soll (german-foreign-policy.com berichtete [5]). Bei KMW heißt es, bei dem Modell handle es sich praktisch um ein „Leopard-Fahrgestell“ mit einem herkömmlichen bemannten Turm – „eine ummantelte Darstellung einer schon vor Jahren vorgestellten Kanonenentwicklung“: nichts Neues also.[6] Um die Lücke bis zur Fertigstellung des MGCS zu überbrücken, ist auch eine Weiterentwicklung des alten Leopard 2 zum Leopard 2A8 in Planung.[7]
USA statt Frankreich
Die Differenzen in Sachen MGCS wiegen umso schwerer, als sie von Beobachtern nur als Symptom umfassenderer deutsch-französischer Konflikte eingestuft werden. Streit gibt es seit Jahren auch beim deutsch-französischen Kampfjet der nächsten Generation, dem FCAS (Future Combat Air System). Sie konnten zuletzt nur durch energische politische Intervention beigelegt werden – zumindest vorläufig.[8] In Paris hat heftigen Unmut ausgelöst, dass Berlin den Aufbau eines europäischen Flugabwehrsystems plant, bei dem US-amerikanische und israelische Modelle genutzt werden sollen, eine französisch-italienische – also europäische – Entwicklung aber nicht.[9] In Frankreich wird zudem heftig Kritik daran geübt, dass die Bundesregierung ihr 100 Milliarden Euro schweres Sonderrüstungsprogramm vorwiegend für den Kauf von US-Rüstungsgütern wie etwa dem Kampfjet F-35 einsetzt. Bereits zuvor, im Juni 2021, hatte Berlin entschieden, auf die ursprünglich geplante Entwicklung eines deutsch-französischen Seefernaufklärers (Maritime Airborne Warfare System, MAWS) gänzlich zu verzichten und stattdessen die US-amerikanische Boeing P-8 Poseidon zu beschaffen. Aktuell wird befürchtet, die Ankündigung von Verteidigungsminister Boris Pistorius, fertige Produkte statt komplexer Neuentwicklungen zu beschaffen, könne deutsch-französische Vorhaben weiter schwächen.
Keine Kompromisse mehr
Deutsch-französische Streitigkeiten gibt es auch darüber hinaus zahlreich (german-foreign-policy.com berichtete [10]). Schon im Februar 23 wies Camille Grand vom European Council on Foreign Relations (ECFR) darauf hin, Berlin stimme sich im Ukraine-Krieg enger mit Washington ab als mit Paris; dies deute klar darauf hin, dass der Bundesregierung mehr daran gelegen sei, „zu einer soliden Beziehung zu Washington zurückzukehren, als gemeinsam mit Paris eine starke europäische Agenda zu entwickeln“.[11] Landry Charrier, der an der Sorbonne forscht, urteilte im März, der Ukraine-Krieg habe vielleicht „das transatlantische Bündnis zusammengeschweißt“: „Für Deutschland und Frankreich wurde er jedoch zum Spaltpilz.“[12] Beide Staaten seien sich schon recht „lange bewusst, dass sie unterschiedliche Antworten auf globale Herausforderungen haben“; nun aber seien „die Zeiten, in denen sie Kompromisse erarbeiteten“, vorbei. „Aus französischer Sicht verfolgt der Bundeskanzler eine Strategie, die Europa abhängig von den USA macht und am Ende die eigene Handlungsfähigkeit gefährdet“, erläutert Charrier: „Daher die Härte, die Macron gegenüber Deutschland an den Tag legt.“ Zwischen Deutschland und Frankreich breche aktuell „eine neue Epoche an: die Epoche der offenen Konfrontation“. 03. Mai, 2023 https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9227
[1] „MGCS wird kein Panzer sein“. wehrtechnik.info 26.10.2022.
[2] S. dazu Drohnenschwärme im Zukunftskrieg (https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7425/) und Kriegführung mit Künstlicher Intelligenz (https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8084)
[3] Thomas Steinmann: Deutsch-französischer Superpanzer kommt später als geplant. capital.de 11.04.2023.
[4] Sarah Werner: Geheimer Bericht offenbart den Machtkampf um unseren neuen Superpanzer. focus.de 29.04.2023.
[5] S. dazu Der Panthersprung nach Kiew (https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9162)
[6] „MGCS wird kein Panzer sein“. wehrtechnik.info 26.10.2022.
[7] Waldemar Geiger, Gerhard Heiming: Neue Kampfpanzer – Bundeswehr soll Leopard 2 A8 erhalten. esut.de 14.04.2023.
[8] Oliver Neuroth: Spanien steigt bei FCAS ein. tagesschau.de 28.04.2023.
[9] S. dazu Auf Kosten Frankreichs. https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9098
[10] S. dazu Die deutsch-französische „Freundschaft“. https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9062
[11] Camille Grand: Ohne europäische Dimension? internationalepolitik.de 24.02.2023.
[12] Landry Charrier: Gebrochene Achse. ipg-journal.de 20.03.2023.
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L’éternel retour de Charlemagne Les autorités de l’UE ont de longue date institué le 9 mai comme « le jour de l’Europe ». Rien à voir, bien sûr avec la chute du Troisième Reich. Il s’agit de rendre hommage à la « déclaration Schuman » rendue publique le 9 mai 1950, et souvent considérée comme le point de départ de l’intégration européenne.
C’est peu dire que cette « fête de l’Europe » s’est, une nouvelle fois, déroulée dans la plus totale indifférence des peuples. Même au sein des pays censés être les plus favorables à l’UE, il ne se trouve guère de foules prêtes à manifester leur liesse pour cette soi-disant « grande aventure », en réalité cette tentative historique de conforter le camp ouest-européen dans le contexte de la guerre froide.
L’indifférence des peuples est compensée par la grande pompe organisée par les eurocrates pour la remise du « Prix Charlemagne », la plus haute distinction de l’Union européenne, qui récompense chaque année des personnalités qui se sont distinguées par leur engagement en faveur de l’« unité européenne », autrement dit qui ont milité pour l’effacement des souverainetés nationales (et de la démocratie dont elles sont inséparables).
Parmi les héros chéris par Bruxelles, on trouve ainsi des Français comme Jean Monnet (1953), Simone Veil (1981), François Mitterrand (1988), Valéry Giscard d’Estaing (2003) ou Emmanuel Macron (2018) ; des Allemands tels que Konrad Adenauer (1954), Walter Hallstein (1961), Helmut Kohl (1988), Angela Merkel (2008), Wolfgang Schäuble (2012) ou Martin Schulz (2015) ; et même des Britanniques comme Winston Churchill (1955) ou Anthony Blair (1999). On y trouve également de grands promoteurs américains de l’intégration européenne tels que George Marshall (l’homme du plan éponyme, 1959), Henry Kissinger (1987), ou William Clinton (2000). En 2002, c’est même la monnaie, l’euro, qui a été décorée…
La dénomination même du prix, une référence à l’empereur qui régna jadis des deux côtés du Rhin, en dit long sur l’état d’esprit qui animait les « Pères de l’Europe » : une ambition impériale. Charlemagne, roi guerrier, agrandit notablement son royaume par une série de campagnes militaires, en particulier contre les Saxons païens dont la soumission fut difficile et violente (772-804), mais aussi contre les Lombards en Italie et les musulmans d'al-Andalus.
L’ambition impériale fut d’ailleurs explicitement revendiquée par quelques hauts dirigeants européens comme José Manuel Barroso, l’ancien président de la Commission, et, plus récemment par Bruno Le Maire, l’actuel ministre français des finances. Selon eux et quelques autres, l’UE ne doit pas avoir peur de se sentir un empire, mais un empire « pacifique » s’empressaient d’ajouter ces zélateurs de l’idée européenne.
Cette année, Volodymyr Zelensky a été désigné comme le lauréat 2023 du Prix Charlemagne, et sera ainsi honoré le 13 mai à Aix-la-Chapelle, siège historique du trône impérial où se déroule depuis 1950 cette cérémonie fréquentée par la jet-set bruxelloise. 15 mai 2023, https://ruptures-presse.fr/deutsch/charlemagne-empire-zelensky/
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Eine waghalsige Lesart der Unionswerte 15 Länder haben sich der Kommissionsklage gegen das ungarische Anti-LGBTQ-Gesetz angeschlossen. Das klingt politisch erfreulich, die Sache hat dennoch einen Haken.
Im Juni 2021 verabschiedete das ungarische Parlament ein Kinderschutzgesetz, wenige Wochen später trat es in Kraft. Ursprünglich ging es in dem Gesetz tatsächlich um Kinderschutz, genauer: um den Schutz vor und die Ahndung von pädophilen Straftaten. Im Zuge der Beratungen wurde das Gesetz aber mit weiteren Inhalten angereichert. Für viel Kritik sorgten die Regelungen zum erschwerten Zugang Jugendlicher zu Medien, die nicht-heterosexuelle Sexualität, Transsexualität und Geschlechtsumwandlungen darstellen.
Nicht nur hier richtet die ungarische Regierung ihre Familienpolitik strikt am traditionellen Familienbild aus. Die Kritik daran überzeugt oft, wenn auch nicht immer. Die Werte, an denen sich die Familienpolitik und angrenzende Politikfelder orientieren, dürfen sich in der heterogenen EU legitimerweise unterscheiden. Doch selbst wenn man das fair in Rechnung stellt, erscheint die ungarische Politik zur Unterdrückung der öffentlichen Sichtbarkeit von LGBTQ-Personen empörend.
Jüngst zeigte ein Vorgang im Zusammenhang mit der Umsetzung der europäischen Whistleblower-Richtlinie, wie weit einige ungarische Politiker zu gehen bereit sind. Einige Abgeordnete sorgten dafür, dass der Gesetzestext dahingehend ergänzt wurde, dass unter seinen Schutzbereich auch Hinweise auf Aktivitäten fallen, die die „verfassungsmäßig anerkannte Rolle von Ehe und Familie“ oder das „Recht von Kindern auf Identität entsprechend ihrem Geschlecht bei der Geburt“ in Frage stellen. Kritiker sprachen zu Recht von staatlicher Förderung einer Blockwart-Mentalität im Dienste des traditionellen Familienbilds. Glücklicherweise stoppte die ungarische Staatspräsidentin den Vorgang wegen Grundrechtsbedenken.[FAZ vom 24.4.23, S. 5] Übrigens, dies nur am Rande, hat Deutschland die Whistleblower-Richtlinie bisher nicht umgesetzt, so dass nun Zwangsgelder drohen.
Zurück zum ungarischen Anti-LGBTQ-Gesetz: Die Kommission verfolgte die Vorgänge aufmerksam und eröffnete ein Vertragsverletzungsverfahren. Solche Verfahren haben mehrere Stufen. Sie beginnen mit einem Aufforderungsschreiben, zu dem das betroffene Land innerhalb von zwei Monaten Stellung nehmen muss. Ist die Kommission mit der Antwort nicht zufrieden, formuliert sie eine förmliche Aufforderung, das EU-Recht einzuhalten. Wieder gibt es eine Frist von zwei Monaten. Ist die Kommission von den Ergebnissen erneut nicht überzeugt, kann sie den Europäischen Gerichtshof (EuGH) einschalten. Das geschah im Dezember 2022, die Klageschrift zur Rechtssache C-769/22 findet sich unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:62022CN0769.
Die Kommission gewinnt viele Unterstützer
Es kommt immer wieder vor, dass einzelne Mitgliedstaaten oder kleine, von der beanstandeten Maßnahme besonders betroffene Ländergruppen die Kommission bei Vertragsverletzungsverfahren vor dem Gerichtshof unterstützen, indem sie der Klage formell beitreten. Außergewöhnlich ist aber der Beitritt von zehn und mehr Mitgliedstaaten. Seit Dezember erklärten 15 Länder ihre Unterstützung, und zwar in dieser Reihenfolge: zuerst die drei Benelux-Länder; dann Portugal, Dänemark, Österreich, Malta, Spanien, Irland; und in einem weiteren Schritt Schweden, Finnland, Slowenien und Griechenland. Schließlich, am letztmöglichen Tag vor Ende der hier maßgeblichen Frist am 6. April 2023, traten auch Deutschland und Frankreich der Kommissionsklage bei.
Die Unterstützung ist ein starkes politisches Signal – so weit, so gut. Der Beitritt zu einer solchen Klage ist aber mehr ist als nur ein politisches Zeichen. Er ist nämlich nicht nur im Hinblick auf die politische Bewertung des Zielpunkts des Verfahrens informativ, hier: die Bewertung des in der Tat verheerenden Anti-LGBTQ-Gesetzes der national-konservativen ungarischen Regierung. Vielmehr signalisiert ein solcher Beitritt auch Zustimmung zu ihrer Begründung, also zur Interpretation der Bestimmungen, gegen die die beanstandete Maßnahme mutmaßlich verstößt.
Und hier lohnt ein genauerer Blick. Die Kommission verfolgt mit ihrer Klageschrift eine Agenda, in der es um mehr und anderes geht als um die ungarische Familienpolitik. Es geht ihr um die Ausweitung ihrer Befugnisse. Dass sie den Vorgang entsprechend nutzt, wirft einen Schatten auf die Klage. Ich bezweifle, dass die Kommission hier Unterstützung verdient.
Worauf die Kommissionsklage fußt
Die Klage stützt sich auf einen bunten Strauß unionsrechtlicher Bestimmungen: vier Unionsgrundrechte aus der europäischen Grundrechtecharta, eine Binnenmarktfreiheit (und zwar die Dienstleistungsfreiheit) sowie vier sekundärrechtliche Akte, darunter drei Richtlinien und eine Verordnung. Eine oder mehrere der Bestimmungen dürften am Ende „beißen“, wenn auch vielleicht nicht alle. Entscheidend ist nun, dass die Kommission der Aufzählung folgenden Klagegrund hinzufügt: „Indem Ungarn die … genannten Vorschriften erlassen hat, hat Ungarn gegen Art. 2 des Vertrags über die Europäische Union verstoßen.“ Das liest sich unscheinbar, ist im Hinblick auf das Verhältnis zwischen EU und ihren Mitgliedstaaten aber revolutionär.
Was hat es mit Artikel 2 EUV auf sich? An dieser Stelle listet der Vertrag Grundsätze zum Selbstverständnis der Union auf: die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte einschließlich der Rechte von Minderheiten. Kein vernünftiger Mensch würde diesem Selbstverständnis widersprechen wollen. Eine andere Frage ist, wozu genau die Aufzählung die Unionsorgane eigentlich ermächtigt.
Denn der Vertragsartikel kennzeichnet die Grundsätze nicht als Rechtspflichten, sondern als Werte. Nicht die europäischen Gerichte, sondern die Politik, so bis vor kurzem jedenfalls der Stand der Dinge, war aufgerufen, über sie zu wachen. Die Einzelheiten finden sich in Artikel 7 EUV, der den Rat in einem zweistufigen Verfahren ermächtigt, einzelne Mitgliedstaaten im Falle der Gefahr einer Verletzung der Werte zur Rede zu stellen (Stufe 1) und bei schwerwiegenden und anhaltenden Verletzungen Sanktionen bis hin zur Aussetzung von Stimmrechten im Rat zu verhängen (Stufe 2).
Eine Revolution in mehreren Schritten
In der Auseinandersetzung um die polnischen Rechtstaatsreformen wurde das Artikel-7-Verfahren jüngst relevant. Es erwies sich wegen der hier erforderten Einstimmigkeit und vor dem Hintergrund der Partnerschaft zwischen Polen und Ungarn aber als politisch blockiert. Auf der Suche nach Alternativen begann die Kommission, Polen in einer Serie von Fällen direkt vor dem EuGH zu verklagen. Sie argumentierte, dass aus Artikel 2 EUV in Verbindung mit Artikel 19 EUV, der den Mitgliedstaaten die Gewährleistung eines wirksamen Rechtsschutzes abverlangt, durchaus vertikal durchsetzbare Rechtspflichten der Mitgliedstaaten gegenüber der EU resultieren. Der EuGH folgte der Kommission, verlangte Anpassungen und verhängte, wenn die Anpassungen ausblieben, Zwangsgelder in exzeptioneller Höhe. (https://makroskop.eu/38-2021/der-konflikt-um-die-rechtsstaatlichkeit-in-polen-1/)
Bereits das war ein großer, mit viel Mut zur Kreativität gegangener Schritt. Wie Martin Nettesheim in Ausgabe 8/2021 der Zeitschrift für Rechtspolitik stimmig beschrieb, erfolgte mit den Eingriffen in mitgliedstaatliche Justizordnungen eine vorher nicht für möglich gehaltene Umkehrung des Verhältnisses zwischen Union und Mitgliedstaaten. Nicht mehr die Mitgliedstaaten schaffen sich eine Union zur Bearbeitung transnationaler Problemlagen (und schreiben deren Verfassung), nein: Die Union reklamiert, konsequent zu Ende gedacht, unter Verweis auf die Unionswerte jene mitgliedstaatlichen Strukturen entwerfen und transformieren zu dürfen, die sie gemäß Artikel 4 EUV doch eigentlich gerade zu respektieren hat.
Die neue Klageschrift gegen Ungarn dreht die Schraube nun noch einmal einen entscheidenden Schritt weiter. Die Kommission stützt sich im zitierten Satz nämlich isoliert auf Artikel 2 EUV, ohne Verbindung zu einer anderen Vertragsbestimmung wie Artikel 19 EUV. Die Kommission testet hier, wie weit der Gerichtshof bei der Uminterpretation des normativen Gehalts der Unionswerte zu gehen bereit ist.
Ein unüberschaubares Potenzial
Wie Jannes Dresler auf dem Verfassungsblog herausarbeitete (https://verfassungsblog.de/der-brusseler-testballon/), hatte der Verweis auf Artikel 2 EUV im Verfahren gegen Polen noch eine gewisse Erdung, indem er in Verbindung mit einem weiteren Artikel genutzt wurde, der den aufgerufenen Unionswert konkretisierte und zudem einen Bezug zum Anwendungsbereich des Unionsrechts herstellte. Anders nun im Verfahren gegen Ungarn. Die Kommission möchte die Werte so verstanden wissen, dass sie mit ihnen isoliert und freihändig, ohne Rücksicht auf den Anwendungsbereich der Unionsrechts, hantieren kann. Gelingt das, dann könnte sie künftig gegen alle nur erdenklichen Praktiken der Mitgliedstaaten als vermeintliche Verstöße gegen die Unionswerte vorgehen.
Die Folgen wären weitreichend, denn die Rechtsordnung der EU wäre grundlegend umstrukturiert – ein Schritt, der sich integrationsgeschichtlich nur mit der Schöpfung der Direktwirkung und des Vorrangs des Europarechts in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts vergleichen ließe, vielleicht auch mit der in den siebziger Jahren vom EuGH begonnenen und sukzessive fortgesetzten Neuinterpretation der Binnenmarktfreiheiten. Die Uferlosigkeit des Vorgangs ergibt sich aus dem unklaren, ja unbestimmbaren Inhalt der Unionswerte einerseits und ihrem unbeschränkten Anwendungsbereich andererseits.
Weil die Konsequenzen tatsächlich so unvorhersehbar wie unkontrollierbar wären, würde das Ergebnis mindestens – erneut – die Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten auf den Plan rufen und damit neue Verfassungskonflikte im europäischen Mehrebenensystem schüren. Gewiss, es ist nicht gesagt, dass der Gerichtshof hier tatsächlich zugreift. Die Kommission wirft dem EuGH einen Ball zu, indem sie in ihrer Klageschrift ein abermals neues Verständnis des Artikels 2 EUV behauptet, oder vielmehr: es einigermaßen frech voraussetzt. Alles Weitere ist Sache des EuGH. Er kann den Ball aufnehmen oder aber auch nicht.
Schau hin, was Du unterstützt
Die Unterstützung der Klageschrift durch Deutschland und andere Mitgliedstaaten ist angesichts all dessen unbedacht. War den 15 Regierungen bewusst, was sie taten, als sie sich zum Beitritt zur Klage entschieden? In Deutschland gab es hierzu, soweit ich erkennen kann, keinen formalen Kabinettsbeschluss. Die Entscheidung muss in einer Art Umlaufverfahren gefallen sein, und wie man hört, war den grün geführten Ministerien an dem Beitritt zur Klage besonders gelegen. Richtet sich die neue Lesart des Artikels 2 EUV in künftigen Verfahren gegen Deutschland oder andere Mitkläger, werden sie sich gewiss anhören dürfen, dass sie die neue Deutung dieser Vertragsbestimmung im Verfahren gegen Ungarn doch schließlich aus freien Stücken unterstützten.
Bauchschmerzen bereitet mir hier ein noch ein weiterer Umstand. Oben habe ich die 15 Länder aufgezählt, die der Kommissionsklage beitraten. Der Vorgang ist ein sozialwissenschaftlich interessanter Testfall: Alle 26 Mitgliedstaaten außer dem beklagten Land selbst (Ungarn) mussten sich zum selben Zeitpunkt zum selben Fall verhalten, indem sie sich für oder gegen den Beitritt zur Klage entschieden. Im Ergebnis zeigt sich eine nahezu perfekte Ost-West-Spaltung: Von den 11 osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten (Ungarn hier mitgezählt) entschloss sich lediglich Slowenien für eine Unterstützung, während sich von den 16 westeuropäischen Mitgliedern lediglich Italien und Zypern gegen eine Unterstützung entschieden.
Offenbar haben wir es bei familienpolitischen (und mutmaßlich bei weiteren kulturellen) Konflikten mit Wertekonflikten zwischen Ost und West zu tun, nicht lediglich mit einer „abtrünnigen“ rechtskonservativen Regierung. Die Regierungen sollten hierüber unbedingt sprechen. Ist es aber klug, solche Auseinandersetzungen mittels rechtlich oktroyierter Vorgaben lösen zu wollen? Und das zudem auf Grundlage einer waghalsigen Neudeutung der Unionswerte?
Das erscheint mir nicht weitsichtig. Falls der Versuch den Konflikt unnötig vertieft, statt ihn zu lösen oder zu befrieden, sollte uns das nicht überraschen. Und man denke hier bitte nicht: verbohrtes Osteuropa. Nehmen wir einmal im Gedankenexperiment an, das Deutschland der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts habe sich in einer Europäischen Gemeinschaft mit Ländern wiedergefunden, deren Familienpolitik durchweg progressiver ausfiel als die deutsche. Hätte sich Deutschland einen europäischen Eingriff in seine Familienpolitik gefallen lassen – oder hätte es so ein Vorgehen vielmehr als übergriffig zurückgewiesen und sich von der damaligen EG entfremdet?
Fazit
Wie auch immer: Die Kommission hat die Chance auf eigene Machtausweitung, die in dem Verfahren gegen das ungarische Anti-LGBTQ-Gesetz schlummerten, erfasst und ergriffen. Der berechtigte Unmut über die Familienpolitik Ungarns ließ die Mitgliedstaaten über die Details der Klageschrift hinwegsehen. So gelang es der Kommission, 15 Mitgliedstaaten um Unterstützung zu ködern. Frankreich, Deutschland und andere sollten sich nicht beschweren, wenn sich die neue Lesart der Unionswerte als vertikal durchsetzbare Rechtspflichten gegenüber den EU-Organen bald gegen sie selbst wenden sollte. Sie haben zugebissen, obwohl der Haken weithin sichtbar aus dem Wurm herauslugte. Von Martin Höpner, 04. Mai 2023, https://makroskop.eu/15-2023/eine-waghalsige-lesart-der-unionswerte/
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Polnische paramilitärische Schlägertrupps gegen LKW-Fahrer Polnische paramilitärische Schlägertrupps gegen LKW-Fahrer auf einer Autobahn-Raststätte in Hessen – was ist los auf deutschen Autobahnen? Und was hat die EU damit zu tun?
Es sind Szenen, die einen eher an Guadalajara als an Gräfenhausen denken lassen: Fast sechs Wochen lang streikten und protestierten 60 LKW-Fahrer aus Georgien und Usbekistan auf der Autobahnraststätte Gräfenhausen bei Darmstadt, weil sie über 50 Tage keinen Lohn von ihrem polnischen Arbeitgeber, dem polnischen Unternehmer Lukasz Mazur, erhalten hatten. Immerhin ging es um eine Gesamtsumme von über 300.000 Euro. Am Karfreitag tauchte dieser Unternehmer mit einem Schlägertrupp und einem gepanzerten Fahrzeug auf der Raststätte auf – mit dem Ziel, den Fahrern die Lastwagen abzunehmen. Die Polizei griff ein und nahm 19 Personen vorübergehend fest, darunter den Unternehmer und seine Mitarbeiter, die danach Strafanzeigen erhielten.
DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell, der die Streikenden besuchte, bezeichnete dies als „ungeheuerlichen Vorgang“ und richtete eine Reihe von Forderungen an die Regierung, insbesondere mehr und zielgerichtete Kontrollen in der Branche, um geltendes Recht durchzusetzen. Andere, insbesondere EU-Abgeordnete, sprachen sogar von „moderner Sklaverei“. Das sind starke Worte zu einer Zeit, in der für „westliche Werte“ sogar Kriege geführt werden.
„Moderne Sklaverei“ in der EU, die vor zehn Jahren noch den Friedensnobelpreis bekommen hat, als Anerkennung für viele Jahrzehnte Frieden, Versöhnung und Demokratie?
Aber Fahrer ein Jahr lang ununterbrochen in ihren Lastwagenkabinen festzuhalten, ihnen Lohn zu verweigern oder sie in Scheinselbständigkeit zu halten, ist das Gegenteil von sozialen Frieden – es ist kriminell, wirtschaftskriminell.
Die EU zur wettbewerbsfähigsten Region machen
Tatsächlich hat die EU versucht, die schlimmsten Praktiken mit Richtlinien einzufangen. Andererseits bietet das Vertragsrecht die entsprechenden Umgehungsmöglichkeiten. Werkverträge, Scheinselbständigkeit und Sub-Unternehmerketten gehören zu den Instrumenten, welche die EU hoffähig gemacht hat.
Und die Beitrittsländer aus dem Osten nutzen dies selbstverständlich ebenso aus wie bisherige EU-Mitglieder. Es ist kein Zufall, dass es ein polnischer Unternehmer war, der die Streiks und die Zwischenfälle in Gräfenhausen zu vertreten hat. Polnische Spediteure bestreiten rund 20 Prozent der EU-Frachtkapazitäten. Ein wachsender Anteil der beteiligten LKW-Fahrer geht aber bereits über die EU hinaus: Von 228.000 Fahrerbescheinigungen für nicht-EU-Arbeitskräfte wurden allein in Polen 103.000, und in Litauen 67.000 Bescheinigungen ausgestellt. In Polen selbst ist ein Drittel der Fahrer nicht aus der EU.
Und hier kommt als nächstes das Lieferkettenproblem ins Spiel. Große und bekannte Unternehmen wie VW, Ikea oder DHL vergeben gerne Aufträge an solche Firmengruppen, um Geld zu sparen. In der Öffentlichkeit bestreiten sie dies aber. Auch der Vorsitzende des Verkehrsausschusses des Bundestags Udo Schiefner, SPD, beklagt dies und fordert die von seiner Partei gestellte Regierung auf, „wettbewerbsverzerrende und unfaire“ Arbeitsbedingungen stärker zu bekämpfen. Und bekämpfen heißt hier: verstärkte und wirksame Kontrollen.
Wenn es aber zum obersten Ziel der EU-Politik gehört, die „Wettbewerbsfähigkeit“ zu fördern, dann mutieren Kontrollen schnell zur lästigen Fessel. Arbeits- und Sozialrechte gehören aus dieser Sicht immer schon zu den Fesseln.
Spätestens seit dem Lissabon-Vertrag von 2007 will Brüssel die EU zur „wettbewerbsfähigsten Region der Welt“ und die Arbeitsverhältnisse fit für die Globalisierung machen. Das Schlagwort ist „Flexicurity“. Dieses Konzept von 2007, sagt Heide Pfarr vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung (WSI), nährt den Verdacht, dass es lediglich um den Abbau von Schutzrechten der Beschäftigten gehe, während die Stärkung sozialer Sicherheit nur papierenes Versprechen bleibe. Pfarr: „Der Verdacht liegt nahe, die Diskussion um Flexicurity könnte zur Verschleierung und Rechtfertigung weiterer Deregulierungsvorhaben dienen.“
Durch den Ukrainekrieg hat der Einfluss der USA auf die EU noch einmal stark zugenommen. Und mit diesem wachsenden Einfluss schreitet auch die „Amerikanisierung der Arbeitsverhältnisse“ in der EU voran. Dazu muss man wissen, dass die USA von den 207 Arbeitsrechten der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) nur 12 anerkannt haben, und auch die Sozial- und Arbeitsrechte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO nicht anerkennen.
Insoweit wirft der Streik der georgischen und usbekischen LKW-Fahrer in Gräfenhausen nicht nur ein Licht auf die Nutznießer unsozialer Arbeitsverhältnisse, sondern auch auf den Zustand einer EU, die sich im Ukrainekrieg als Leuchtturm der Menschenrechte inszeniert.
Letztlich ist der Vorfall auf der Autobahnraststätte nur die Spitze des Eisbergs: kriminelle Praktiken sind Teil unseres Wirtschaftssystems, weil sie schlicht besonders profitabel sind, solange sie nicht aufgedeckt werden. Und damit das so bleibt, muss nur dafür gesorgt werden, dass Kontrollen des Rechts so wenig wie möglich die Geschäfte behindern.
Ob es Geldwäsche ist, Cum-Ex oder WIRECARD: Mit Kontrollen befasste Experten können ein Lied davon singen, wie sie von ihrer eigenen Behörde im Zaum gehalten werden. Zuletzt beschrieb die Steuerfahnderin Birgit Orth in ihrem Bestseller „Als Steuerfahnderin auf der Spur des Geldes“ diese Vorfälle.
Wenn die Staatsanwaltschaft Osnabrück gegen das Bundesfinanzministerium wegen „Strafvereitelung im Amt“ ermittelt, dann stellt sich die Frage, inwieweit Kontrollen von Staatsseite überhaupt erwünscht sind, wenn dadurch die Profitabilität von Unternehmen beeinträchtigt wird.
Insofern haben die LKW-Fahrer aus dem 4.000 km entfernten Georgien und dem über 5.000 km entfernten Usbekistan einen dringend benötigten Spiegel geliefert, den wir auch nutzen sollten. Von Herbert Storn, 04. Mai 2023. https://makroskop.eu/15-2023/grafenhausen-eu-wirtschaftskriminalitat/
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EU und griechisches Zugsunglück "Wir sind eine ruinierte Generation": Hohe Arbeitslosigkeit, Polizeigewalt, das verheerende Zugunglück im März 2023: Die Wut der griechischen Jungend auf die Regierung ist immens. WoZ, Nr. 20, 18. Mai 2023, S. 10, https://www.woz.ch/2320/griechenland-waehlt/wir-sind-eine-ruinierte-generation/!T4T7KA0SXV01
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Die EU will Riesen-Lkw grenzüberschreitend zulassen Die EU will Riesen-Lkw grenzüberschreitend zulassen – mit gravierenden Folgen für die Schweiz.
Die Europäische Union gibt vor, den Lkw-Verkehr angeblich grüner machen zu wollen: Bis zu 25,25 Meter lange und 60 Tonnen schwere Fahrzeuge sollen die Wende bringen.
Gigaliner oder Monsterlastwagen – nur schon die Namen verraten, dass die überlangen Fahrzeuge auf Europas Strassen nicht immer gern gesehen sind. Dennoch sind die bis zu 25,25 Meter langen und bis zu 60 Tonnen schweren Trucks in den letzten Jahren zu einem gewichtigen Faktor im Transportwesen geworden. Bisher allerdings mit klaren Beschränkungen. In Schweden und Finnland sind sie inzwischen weit verbreitet. In den Niederlanden, Belgien, Dänemark, Spanien, Portugal und Tschechien wird ihr Einsatz erprobt.
Nun will die Europäischen Union freie Fahrt für die Gigaliner für den ganzen Kontinent. Für den 21. Juni 2023 hat die EU-Kommission nämlich einen Vorschlag zur Überarbeitung der Richtlinie für Masse und Gewichte von Fahrzeugen angekündigt. Noch ist offen, ob mit dieser Vorlage nur längere Lastwagen grenzüberschreitend zugelassen werden sollen oder neu auch 60-Tönner statt wie bisher 40-Tönner, beziehungsweise 44-Tönner im kombinierten Verkehr.
Deutschland spielt bei der erweiterten Zulassung von Gigalinern eine Schlüsselrolle. Als die EU-Kommission vor einigen Jahren bereits einmal in diese Richtung gehen wollte, war die Bevölkerung sehr skeptisch. Deutschland liess 2012 daher nur begrenzte Versuche mit Lang-Lkw mit einer Länge bis 25,25 Metern zu. Herkömmliche Lkw mit Anhänger dürfen eine Länge bis 18,75 Metern haben. Das Maximalgewicht blieb jedoch gleich.
Probehalber fahren durften diese Riesentrucks mit einem Maximalgewicht vorerst nur auf einigen ausgewählten Strecken. In den folgenden Jahren wurde dieses Streckennetz ständig ausgeweitet. Inzwischen kommt man problemlos mit einem Gigaliner von Flensburg oder Rostock bis an die Schweizer Grenze, wie das sogenannte Positivnetz des Verkehrsministeriums zeigt. Am 1. Januar 2017 wurde der Probe- in einen Dauerbetrieb umgewandelt. Mit den Niederlanden hat Deutschland zudem ein bilaterales Abkommen abgeschlossen, das Lang-Lkw den Grenzübertritt ermöglicht. Weitere bilaterale Abkommen sind gemäss einer Sprecherin des Verkehrsministeriums in Entwicklung.
«Das Bundesministerium für Digitales und Verkehr begrüsst grundsätzlich die Bemühungen der EU-Kommission, den Einsatz von Lang-Lkw mit einem Gewicht von 40 Tonnen beziehungsweise 44 Tonnen im kombinierten Verkehr grenzüberschreitend zuzulassen», erklärt die Sprecherin auf Anfrage der NZZ. Eine Änderung der bestehenden Gewichtsbeschränkungen für Lang-Lkw sei gegenwärtig nicht vorgesehen.
Trotz der deutschen Unterstützung kann die EU-Kommission nicht damit rechnen, dass ihr Vorschlag von den Mitgliedsländern einfach durchgewinkt wird. Bereits vor zehn Jahren scheiterten ähnliche Pläne im EU-Parlament. Die österreichische Verkehrsministerin Leonore Gewessler hält an diesem Widerstand fest. Österreich werde sich sowohl im Verkehrsrat wie auch im Austausch mit den Abgeordneten im Parlament gegen die Riesenfahrzeuge aussprechen.
«Ein Gigaliner ist kein Beitrag zur CO2-Reduktion», erklärte die Grünen-Politikerin in der «Kronen-Zeitung». Als solchen verkauft die EU-Kommission nämlich ihre Pläne: wenn eine Ladung mit zwei statt mit drei Lastwagen transportiert werde, verbessere dies sowohl die CO2-Bilanz wie auch die Energieeffizienz. Für Gewessler steht allerdings fest, dass Österreichs Strassennetz nicht auf die höhere Gewichtsbelastung ausgelegt ist. «Es wären hohe Investitionen notwendig, insbesondere in Brücken», ist sie überzeugt.
Kollaps von Brücken droht
Dem Bundesamt für Strassen (Astra) ist die Thematik bekannt. Die EU-Kommission habe die Schweiz verschiedentlich über die Weiterentwicklung der Vorschriften für Masse und Gewichte im grenzüberschreitenden Verkehr informiert, schreibt Jérôme Jacky, der Bereichsleiter Information und Kommunikation.
Momentan lassen die gesetzlichen Bestimmungen den Einsatz in der Schweiz nicht zu. Ausserdem gilt das Landabkommen mit der EU, in dem das Maximalgewicht auf 40 Tonnen festgelegt ist. Trotzdem dürfte die Schweiz unter Druck kommen. Die EU würde wohl alles unternehmen, um den wichtigen Nord-Süd-Korridor durch die Schweiz für die Lang-Lkw befahrbar zu machen.
Eine solche Entwicklung befürchtete der Bundesrat bereits vor 12 Jahren. «Sollte sich die Europäische Kommission dazu entschliessen, könnte die Schweiz trotz breiter politischer Ablehnung der Zulassung von Gigalinern in der Schweiz unter Druck geraten und damit Gigaliner ganz oder teilweise zulassen», hielt die Regierung damals fest.
Das Astra analysierte deshalb 2011 das schweizerische Strassennetz und kam zum Schluss, dass eine generelle Zulassung der Riesen-Lkw nicht möglich ist. Bereits bei der Einfahrt in die Schweiz gäbe es kritische Punkte, da Zollanlagen nicht auf Gigaliner ausgerichtet seien, hielten die Fachleute fest. Zahlreiche Anlagen wie Raststätten, Anschlüsse bei Hochleistungsstrassen, Knoten und Kreisel wären aus physischen und rechtlichen Gründen nicht geeignet.
Ausserdem wären bei einer Erhöhung des Fahrzeuggesamtgewichts auf 60 Tonnen einerseits die Tragfähigkeit verschiedener Kunstbauten, insbesondere Brücken, andererseits die Sicherheit in Tunnels, speziell bei Gefahrguttransporten, nicht mehr gewährleistet, stellten die Astra-Experten fest. Oder kurz zusammengefasst: Gigaliner würden das schweizerische Strassennetz innert Kürze zum Kollabieren bringen. Diese Analyse ist laut dem Sprecher Jérôme Jacky immer noch gültig.
Die massiven Schäden für die Infrastruktur sind nur ein Grund, warum der Verein Alpeninitiative alarmiert ist. «Wir beobachten die grenzüberschreitende Zulassung von 60-Tönnern sehr besorgt», sagt der Geschäftsleiter Django Betschart. «Ein solcher Schritt würde die Verlagerung des Güterverkehrs von der Strasse auf die Schiene torpedieren.» Zudem würde die freie Fahrt für Gigaliner die Umwelt stark belasten und die anderen Verkehrsteilnehmer gefährden.
Der Verein Alpeninitiative will alle Hebel in Bewegung setzen, um in Zusammenarbeit mit der Dachorganisation Transport and Environment die EU-weite Zulassung von Lang-Lkw zu verhindern. In dieser NGO haben sich 53 Vereinigungen aus 24 Ländern zusammengeschlossen, die sich für einen nachhaltigen Verkehr einsetzen.
Der Nutzfahrzeugverband Astag lehnt eine Änderung der geltenden Bestimmungen zu Massen und Gewichten klar ab. Als Hauptgrund führt der Vizedirektor André Kirchhofer an, dass von allfälligen Produktivitätsgewinnen bzw. tieferen Transportpreisen vorab die verladende Wirtschaft profitieren würde. «Den Transportunternehmen blieben lediglich höhere Investitionskosten.» Das Schweizer Transportgewerbe sei stattdessen bestrebt, die Erneuerung der Fahrzeugflotten weiter voranzutreiben. «Der Fokus liegt auf der Verwendung von Fahrzeugen mit CO2-neutralen Antrieben», betont Kirchhofer.
«In Trucks we trust»
Die EU-Kommission begründet die grenzüberschreitende Zulassung von Gigalinern in erster Linie ökologisch. In einem Bericht hält sie fest, das erwartete Wachstum des europäischen Gütertransportmarktes und die umweltpolitischen Herausforderungen würden Schritte verlangen, «durch die Effizienz, Nachhaltigkeit und Widerstandsfähigkeit des Strassengüterverkehrs durch schwere Nutzfahrzeuge verbessert werden». Oder kurz zusammengefasst: Wieso muss man drei Lkw einsetzen, wenn man dieselbe Ladung auch mit zwei Lkw transportieren kann?
Sympathien für diese Strategie gibt es in der deutschen FDP, die mit Volker Wissing immerhin den Verkehrsminister stellt. An einer Podiumsdiskussion, über welche die «Deutsche Verkehrs-Zeitung» berichtete, erklärte der FDP-Europaabgeordnete Jan-Christoph Oetjen, dass Lang-Lkw die Antwort auf die Herausforderung seien, auch mit dem Mangel an Lastwagenfahrern fertigzuwerden. Dies auch deswegen, weil es in der EU nahezu unmöglich sei, neue Bahnstrecken zu bauen. Die EU hält es offenbar mit dem amerikanischen Countrystar Tyler Booth, der singt: «In God and Trucks we trust.» NZZ, 15. Mai 2023, S. 11
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Grenzen der Verschuldung: die Vertreibung der EU-Staaten aus dem finanziellen Phantasieland Es ist absurd: Italien will mit Fördergeldern der EU Fussballstadien sanieren.
Der Corona-Fonds ist alles, nur kein Corona-Fonds
Eine Summe in dieser Grössenordnung hat die EU bereits einmal bereitgestellt, und zwar ebenfalls unter dem Namen Aufbaufonds. Nur war das ein Etikettenschwindel, wie sich immer klarer herausstellt.
Im Mai 2020 hatte die damalige deutsche Kanzlerin, Angela Merkel, dem Drängen Frankreichs nachgegeben und der Äufnung eines Wiederaufbaufonds zugestimmt. Dieser Effort sei nötig als «schnelle und effektive Antwort auf eine vorübergehende Herausforderung», notierten die 27 Staats- und Regierungschefs nach dem Gipfel im Juli 2020.
Nur: Es gab nach der Pandemie bei allem Leid gar nie etwas aufzubauen in Europa. Die Wirtschaft hat sich rasch von Covid erholt, die Mitgliedstaaten kamen für erste Hilfen mit ihren eigenen finanziellen Mitteln auf. Der Aufbaufonds von 807 Milliarden Euro ist derweil noch lange nicht vollständig ausgeschöpft. Erst knapp ein Drittel der nicht rückzahlbaren Zuschüsse sind an die Mitgliedstaaten ausbezahlt worden, bei den Darlehen ist es etwas mehr als ein Zehntel.
Der von Merkel und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron vorbereitete Fonds vermochte immerhin die gerade in Italien rapide steigende EU-Skepsis einzudämmen und sorgte damals auch an den Finanzmärkten für mehr Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der EU.
Doch eigentlich war das Konjunkturprogramm nicht nötig, schon gar nicht, um Corona-Folgen abzufedern. Das zeigt sich an der geplanten Verwendung der Gelder. Diese hat sich in den drei Jahren seit der Zustimmung Merkels mehrmals wesentlich verändert.
Weil gemäss EU im Bereich Gesundheit keine derartigen Summen gebraucht wurden, empfahl die EU-Kommission um Ursula von der Leyen schon zu Beginn den Mitgliedstaaten, rund 40 Prozent der Mittel in Klimaschutz und 20 Prozent in die Digitalisierung zu investieren. Das waren ihre politischen Prioritäten von vor der Pandemie.
Dann überfiel Russland im Februar 2022 die Ukraine, und die Energiepreise schnellten in die Höhe. Flugs wurde der Corona-Fonds angepasst. Die Mitgliedstaaten konnten ein neues Kapitel in ihre Aufbaupläne einfügen und einen Teil der Gelder nun für die Diversifizierung ihrer Energiequellen einsetzen. Die Kommission beschrieb den Aufbaufonds als «Herzstück» der Finanzierung des Repower-EU benannten Programms.
Anfang Mai 2023 folgte die jüngste Kehrtwende. Sie zeigt, wie beliebig der Corona-Fonds mittlerweile eingesetzt werden kann. Brüssel präsentierte ein ASAP genanntes Gesetz, mit dem die Herstellung von Munition in der EU ausgebaut werden soll. In Artikel 6 steht, dass die Mitgliedstaaten Massnahmen in ihre Aufbaupläne integrieren können, die den Zielen des ASAP-Instrumentes dienen.
Italien weiss nicht, wohin mit dem Geld
Doch man hat sich nicht nur vom ursprünglichen Verwendungszweck weit entfernt. Auch bereits zu Beginn geäusserte Befürchtungen zu dem eigentlichen Konjunkturprogramm bestätigen sich.
So werden die Mittel zu spät bereitgestellt und wirken prozyklisch, das heisst, die staatlichen Subventionen heizen die bereits wieder auf Touren gekommene Wirtschaft an und drohen zu allem Übel auch noch die unangenehm hohe Inflation weiter zu beschleunigen.
Darüber hinaus zeigen sich erste Anzeichen von Verschwendung, und das gerade in Italien. Das Bel Paese erhält mit fast 200 Milliarden Euro den grössten Anteil des Aufbaufonds. Nur, das Land weiss nicht, wohin mit dem Geld. Im März wurde bekannt, dass Rom Dutzende Millionen aus den EU-Töpfen in die Renovation von Fussballstadien in Venedig und Florenz investieren wollte. NZZ, 25. Mai 2023, S. 17
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EU-Stabilitätspakt: Christian Lindner fährt der Kommission in die Parade und verlangt strengere Haushaltsregeln für die EU
Die Vorstellungen der Finanzminister zum künftigen Schuldenabbau gehen weit auseinander. Das hat sich an einem informellen Treffen in Schweden gezeigt.
Die Finanzminister der EU haben sich April 2023 zwischen Stockholm und Uppsala beim Flughafen Arlanda erstmals über die Vorschläge der Kommission für neue EU-Haushaltsregeln unterhalten. Und aus Berlin kreuzte dafür ein debattierfreudiger, ja streitlustiger Christian Lindner auf. Während viele Kollegen sich bedeckt hielten, teilte der deutsche Finanzminister aus.
«In Zahlen gegossene Anforderungen»
Im Kern will die Kommission um Präsidentin Ursula von der Leyen, dass künftig jedes Land mit Brüssel ein individuelles Vorgehen bei der Reduktion der Schulden vereinbart. Das reicht Berlin aber nicht. Lindner fordert gemeinsame Referenzwerte, die sicherstellen, dass es auch tatsächlich einen Abbau der Defizite und der Schuldenquoten gibt.
Diesen Ideen kann der italienische Säckelmeister, Giancarlo Giorgetti, wenig abgewinnen. Giorgetti erschien verspätet in Schweden, weil er überraschend eine Budgetabstimmung im Parlament verloren hatte und im italienischen Parlament eine Zusatzschlaufe drehen musste.
Giorgetti und Lindner setzen sich zusammen, der Italiener schrieb nachher von einem «freundlichen» und «konstruktiven» Treffen. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade Rom und Berlin derzeit noch ziemlich unterschiedliche Vorstellungen haben. Während Lindner die Revision des sogenannten Stabilitäts- und Wachstumspaktes (SGP) im Wesentlichen für zu grosszügig gegenüber den hochverschuldeten Staaten, wie Griechenland, Italien oder Frankreich, hält, schätzt Giorgetti diese als zu streng ein.
Gegenüber der italienischen Nachrichtenagentur Ansa sagte Giorgetti, dass er Ausgaben wie diejenigen aus dem EU-Aufbaufonds sowie Rüstungsausgaben zur Unterstützung der Ukraine nicht den EU-Haushaltsregeln unterwerfen wolle. «Man kann ein Land nicht vor die Wahl stellen, entweder der Ukraine zu helfen oder die Regeln des Stabilitätspakts einzuhalten, das erscheint mir absurd», so wird Giorgetti zitiert. Diese Idee ist in verschiedenen Schattierungen schon wiederholt aufgetaucht. Dabei geht es immer darum, dass gewisse «gute» Ausgaben auf dem Schuldenblatt ignoriert werden sollen.
Reformen sind mühselig – Konjunktur gibt Hoffnung
Für rote Köpfe sorgt insbesondere eine Bestimmung, welche die Kommission als Zugeständnis an Berlin in ihren Vorschlag aufgenommen hat. So müssen Länder in Jahren, in denen ihr Defizit den weiter geltenden Zielwert von 3 Prozent des Bruttoinlandproduktes überschreitet, diesen Ausgabenüberschuss um mindestens 0,5 Prozent des BIP verringern. Im vergangenen Jahr hatte ein Dutzend EU-Staaten ein Defizit von über 3 Prozent, darunter drei der vier grössten Volkswirtschaften der EU: Frankreich, Italien und Spanien.
Eine andere Idee, die nach dem Geschmack Berlins wäre, könnte Rom auch teuer zu stehen kommen: jedes Jahr das Verhältnis der Schulden zum BIP um einen Prozentpunkt verringern. Um von derzeit 144 Prozent auf 143 Prozent zu gelangen, müsste Italien (bei stabilem BIP) die Schulden um 27 Milliarden Euro senken.
Doch Giorgetti ist nicht der einzige Finanzminister in einer kniffligen Situation. Allgemein erhöhen die während der Pandemie weiter aufgetürmten Schulden, steigende Zinsen und der als beträchtlich eingestufte Ausgabenbedarf für Klima, Digitalisierung und die Ukraine den Druck auf die Budgets. NZZ, 2. Mai 2023, S. 25.
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Einigung mit Brüssel bringt die SBB in Gefahr Die EU geht massiv gegen die staatlichen Zuschüsse für die Eisenbahn in Frankreich und Deutschland vor. Ein solches Szenario könnte nach dem Abschluss eines Rahmenabkommens mit der EU auch der Schweiz drohen.
Nein, so geht das nicht. Das liess die Europäische Kommission Frankreich 2023 wissen. Der Staat hatte über viele Jahre hinweg seine chronisch defizitäre Güterbahn Fret SNCF mit Milliardenspritzen am Leben erhalten. Die EU erkannte darin eine Benachteiligung der privaten Konkurrenz im Cargomarkt und eröffnete ein Verfahren. Es drohten Bussen und eine erzwungene Rückzahlung der staatlichen Beihilfen, was für die SNCF-Tochter den sicheren Konkurs bedeutet hätte.
Um dieses Szenario zu verhindern, kündigte der französische Verkehrsminister Clément Beaune am 30. Mai 2023 an, die Güterbahn zu liquidieren und eine Firma zu gründen – mit neuem Namen und ohne Schulden. Um die EU zu besänftigen, wird das Nachfolgeunternehmen 20 Prozent seines bisherigen Geschäftsbereiches den nichtstaatlichen Konkurrenten überlassen müssen. Ein solches Schicksal könnte auch der Cargo-Tochter der Deutschen Bahn blühen: Gegen sie läuft seit Anfang 2022 ebenfalls ein Verfahren. Und was geht das alles die Schweiz an? Sehr viel, sagen die Gewerkschaften.
Problem für Service public?
Es geht um das Update der bilateralen Beziehungen, das der Bundesrat nach dem Scheitern des Rahmenabkommens anstrebt. Die Schweiz müsste dann auch die Vorgaben der EU zu staatlichen Subventionen («Beihilferichtlinie») übernehmen, meint ein Sprecher des Gewerkschaftsbundes (SGB) warnend in der «Sonntags-Zeitung». Und damit würde auch der Schweizer Service public im Güter- und Personenverkehr auf der Schiene gefährdet.
Bisher hatte der SGB vor allem mit dem Lohnschutz argumentiert, der durch eine Einigung mit Brüssel aufgeweicht werden könnte. Doch nehmen die Gewerkschaften auch die Nachrichten aus Frankreich zu Kenntnis. Für SGB-Ökonom Reto Wyss ist der Beweis erbracht, dass Brüssel immer härter gegen die öffentliche Finanzierung von Service-public-Unternehmen vorgehe und dass auch die Finanzierung des Schweizer Schienenverkehrs von Brüssel angegriffen werde.
Insbesondere die Zukunft von SBB Cargo wäre damit infrage gestellt, sagt Wyss. Aber auch die öffentliche Finanzierung des Personenverkehrs sei gefährdet. Brüssel werde zum Beispiel die günstigen Bundeskredite für die SBB als Subventionen betrachten und dagegen vorgehen, behauptet Wyss. Und letztlich sei auch die Stützung des regionalen Schienenverkehrs mit öffentlichen Geldern bedroht. «Ein Vertragswerk mit der EU, das dies zulässt, ist für die Gewerkschaften nicht akzeptabel.»
Linker Forderungskatalog
Offizielle Informationen dazu, wie die Sondierungsgespräche in Brüssel verlaufen sind, gibt es nicht. Dem Vernehmen nach dürfte die EU aber weder bei den staatlichen Subventionen noch beim Lohnschutz zu grossen Zugeständnissen bereit sein. Um die Gewerkschaften dennoch für eine Weiterentwicklung der bilateralen Beziehungen gewinnen zu können, fordert die SP deshalb ein Paket mit neuen flankierenden Massnahmen. «Der Bundesrat muss zusammen mit einem neuen EU-Abkommen auch gleich ein Gesetzespaket präsentieren, das allfällige Verschlechterungen mit inländischen Kompensationsmassnahmen wettmacht», zitiert die «Sonntags-Zeitung» Roger Nordmann.
Dazu gehören laut dem SP-Fraktionschef etwa die Ausdehnung der Pflicht zu Gesamtarbeitsverträgen (GAV), neue zusätzliche Kontrollmechanismen für Lohndumping sowie EU-kompatible Formen der öffentlichen Finanzierung des Schienenverkehrs oder anderer Service-public-Leistungen. Offensichtlich nutzt die SP die Vetomacht der mit ihr verbündeten Gewerkschaften, um aus den EU-Verhandlungen auch innenpolitisch möglichst viel herauszuholen.
Doch von bürgerlicher Seite gibt es Widerstand. So lehnt es der Arbeitgeberverband dezidiert ab, dass mehr Angestellte via die Gesamtarbeitsverträge in den Genuss von Minimallöhnen kommen. Bis heute müssen mindestens 50 Prozent der Beschäftigten in einer Branche einem GAV unterstellt sein, damit der Bundesrat diesen für den ganzen Wirtschaftszweig für verbindlich erklären kann. Die Linke würde diese Quoren gerne senken. NZZ, 30. Mai 2023, S. 9
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EU und Weltraumstrategie Die EU-Kommission hat ein neues Strategiedokument zu Weltraum und Verteidigung veröffentlicht, das kaum Beachtung fand, obwohl damit weitere öffentlich finanzierte Satelliten im Wert von 3 Milliarden Euro in die Umlaufbahn gebracht werden sollen. Zu den Zielen der Kommission gehört es, "die technologische Souveränität der EU durch die Verringerung strategischer Abhängigkeiten und die Gewährleistung der Versorgungssicherheit in den Bereichen Raumfahrt und Verteidigung zu stärken, und zwar in enger Abstimmung mit der Europäischen Verteidigungsagentur und der Europäischen Weltraumorganisation". EU-News, 5. Mai 2023
https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/%20en/ip_23_1601?utm_source=POLITICO.EU&utm_campaign=e86ca76f67-EMAIL_CAMPAIGN_2023_03_14_05_40&utm_medium=email&utm_term=0_10959edeb5-e86ca76f67-%5BLIST_EMAIL_ID%5D
https://defence-industry-space.ec.europa.eu/eu-space-strategy-security-and-defence-stronger-and-more-resilient-eu-2023-03-10_en
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«Hirntote» Nato von Macron wiederbelebt An großspurigen «Europareden» mangelte es in letzter Zeit nicht. Neulich schlug der französische Präsident Emmanuel Macron in Bratislava eine neue Tonalität an, sendete Botschaften nach Osteuropa und bleibt sich dennoch treu.
Zu Beginn seiner Rede in Bratislava lässt der französische Präsident Emmanuel Macron fast schon Selbstkritik erkennen. Er erinnert an seine Aussagen aus dem November 2019, mit denen er der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO)den "Hirntod" bescheinigte. Mittlerweile habe der russische Präsident Wladimir Putin das Bündnis mit dem schlimmsten aller Elektroschocks wieder wachgerüttelt.
Überhaupt geht es in seiner Rede viel um die Beziehung Europas zur NATO. Macron stellt klar, dass er nicht vorhabe, die NATO durch eine andere Institution zu ersetzen und dankt den USA für ihren Einsatz in der Ukraine.
Emmanuel Macron hatte mit Äußerungen zu Taiwan im April 23 für Lärm in Europa und den USA gesorgt. Seine Worte wurden als Appell für eine eigenständige Position im Taiwan-Konflikt und als Absage an die USA gewertet. Ganz ab sieht Macron von Europas eigener Rolle aber auch bei der Rede in Bratislava nicht.
"Ein wehrhaftes Europa, ein europäischer Pfeiler innerhalb der NATO ist unentbehrlich, es ist der einzige Weg, glaubwürdig zu sein," führt der französische Präsident aus.
Frankreichexperte Ross zufolge gehe es Macron kurzfristig darum, dass die Ukraine den Krieg gewinne, mittelfristig aber darum, dass die EU aus dem Krieg lerne und selbstständiger werde.
Grundsätzlich seien alle Staaten für sich selbst und die Sicherheit ihrer Nachbarstaaten verantwortlich, mahnte Emmanuel Macron und forderte, dass strategische Entscheidungen schneller erfolgen und umgesetzt werden müssten. Damit meint er auch, dass die «Europäer» ihre Kapazitäten in den Bereichen Energie, Technologien und militärische Fähigkeiten schneller ausbauen müssten.
«Europäische Souveränität» weiterhin wichtig
Bei diesen Forderungen handelt es sich um ein Steckenpferd des französischen Präsidenten: die «europäische Souveränität». Immer wieder setzte sich Emmanuel Macron für eine stärkere Unabhängigkeit der Europäischen Union ein. Diesmal konstatierte er, dass sich «Europa» insbesondere im Bereich der Verteidigung auf dem Weg in die Souveränität befinde. Gleichzeitig ruft er dazu auf, dass Munition in der EU gekauft werden und diese sich gemeinsam auf die Zukunft vorbereiten solle. Standards müssten vereinheitlicht und gemeinsame «europäische» Technologien für die Verteidigung geschaffen werden. Auch das würde dazu führen, das Europa unabhängiger werde.
Französischer Kurswechsel in der Erweiterungspolitik
Für den Außen- und Sicherheitsexperten Ross schwang aber auch noch ein anderer Aspekt in der Rede mit: Der Gedanke, dass die anstehende EU-Erweiterung auch eine Art «Wiedervereinigung» des europäischen Kontinents nach der Trennung durch den kalten Krieg sei.
Und tatsächlich: Mit Blick auf den bevorstehenden Gipfel der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) führte der französische Präsident aus, dass die EU-Erweiterung "so schnell wie möglich" passieren müsse. Man würde auf dem Gipfel innovative Ansätze diskutieren. Dabei müsse «Europa» darauf aus sein, gewisse Fehler zu vermeiden - wie etwa Hoffnungen zu wecken und dann auf Zeit zu spielen. Der EU-Beitrittsprozess der Westbalkanländer zieht sich bereits seit vielen Jahren hin. Seit Sommer 2022 sind auch Moldau und die Ukraine EU-Beitrittskandidaten.
Hinter diesen Äußerungen sieht Ross einen Kurswechsel der Franzosen und betont, dass sich die französische Osteuropapolitik und deren Meinung zu Erweiterungsrunden durch den Ukraine-Krieg grundlegend geändert habe: Nun werde Erweiterungspolitik als ein geopolitisches Instrument begriffen und es herrsche Bewusstsein darüber, dass Hinhaltetaktiken beispielsweise die Länder des Westbalkans angreifbar für russische und chinesische Einflüsse machen könnten.
Botschaft an Osteuropa
Mit seinem Konzept der «europäischen Souveränität» hatte der französische Präsident eine andere Tonalität in seiner Vision für Europa angeschlagen als beispielsweise der deutsche Bundeskanzler in seiner Europarede am 9. Mai. Olaf Scholz sprach sich bei dieser gegen eine europäische Supermacht aus und möchte anderen Ländern auf Augenhöhe begegnen. Frankreichexperte Ross meint, dass Macrons Rede vor allem in Richtung Osteuropa zielte und dem schlechten Image Frankreichs dort entgegenwirken soll. Dies geschehe gerade auch mit Blick auf das anstehende Treffen der Europäischen Politischen Gemeinschaft, bei dem mehr als 40 Staats- und Regierungschefs in Moldau zusammenkommen sollen. Deutsche Welle, 31. Mai 2023 https://www.dw.com/de/macron-und-die-nato-einst-hirntot-jetzt-wiederbelebt/a-65785909
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Muss sich Europa spalten? Auf dem Papier mag Europa unter einer supranationalen Flagge vereint sein. Doch die EU ist zerrissener denn je. Der alte Ost-West-Gegensatz ist mit voller Wucht zurückgekehrt.
Emmanuel Macrons Forderung, Europa solle seine Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten verringern und seine eigene "strategische Autonomie" entwickeln, hat einen transatlantischen Aufschrei ausgelöst. Das politische Führungspersonal sowohl in den USA als auch in Europa reagierte in typisch unbeherrschter Weise – und übersah dabei etwas Entscheidendes: Macrons Worte sagten weniger über den Zustand der europäisch-amerikanischen Beziehungen aus als über die innereuropäischen Beziehungen.
Es ist nämlich so: Das "Europa", von dem Macron spricht, existiert nicht mehr, sofern es jemals existiert hat. Auf dem Papier mag fast der gesamte Kontinent unter einer supranationalen Flagge vereint sein – der der Europäischen Union. Doch diese ist zerrissener denn je. Zusätzlich zu den wirtschaftlichen und kulturellen Gräben, die den Block schon immer geplagt haben, hat der Krieg in der Ukraine dazu geführt, dass entlang der Grenzen des ehemaligen Eisernen Vorhangs wieder eine massive Bruchlinie entstanden ist. Der Ost-West-Gegensatz ist mit voller Wucht zurückgekehrt.
Nichts hätte das mehr verdeutlichen können als die Reaktion auf Macrons Äußerungen. Einerseits deutete der belgische Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, an, dass die Position des französischen Präsidenten durchaus die Standpunkte mehrerer westeuropäischer Staats- und Regierungschefs, auch in Deutschland, widerspiegelt. Andererseits sprach der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki für die meisten mittel- und osteuropäischen Länder, als er erklärte: "Das Bündnis mit den Vereinigten Staaten ist die absolute Grundlage unserer Sicherheit. (...) Anstatt eine strategische Autonomie von den USA aufzubauen, schlage ich eine strategische Partnerschaft mit den USA vor." Dies ist keine taktische oder gar strategische Meinungsverschiedenheit; es handelt sich um zwei existenziell gegensätzliche Visionen.
Vielleicht sollte das nicht überraschen. Der Ost-West-Gegensatz ist seit Jahrhunderten eines der bestimmenden geografischen und politischen Merkmale Europas. Das Ende des Kalten Krieges und der Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder (MOE) zur EU etwas mehr als ein Jahrzehnt später wurden als die lang ersehnte "Rückkehr nach Europa" der postkommunistischen Länder gefeiert. Weithin wurde geglaubt, dass das universalistische Projekt der EU alle größeren sozialen und kulturellen Unterschiede zwischen West- und Mittelosteuropa nivellieren würde – was heißen soll, dass sich letzteres langsam dem ersteren annähern würde. Ein solch überhebliches (und wohl auch imperialistisches) Projekt war zum Scheitern verurteilt; in der Tat wurden schnell Spannungen und Widersprüche zwischen den beiden Europas deutlich.
Die russische Frage
Ein frühes Streitthema war natürlich die russische Frage. Seit ihrer Befreiung von der sowjetischen Besatzung sind mehrere MOE-Staaten, vor allem diejenigen, die an der Grenze zu Russland liegen oder ihr nahekommen, misstrauisch gegenüber den geostrategischen Absichten Moskaus geblieben. Im Gegensatz dazu haben die westeuropäischen Staaten, allen voran Deutschland, ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland ausgebaut, insbesondere im Energiebereich. Einige planten sogar den Aufbau eines integrierten eurasischen geopolitischen Blocks, der theoretisch von Lissabon bis Wladiwostok reichen könnte. Aus mittel- und osteuropäischer Sicht mag ein solches Projekt verrückt erscheinen. Aber aus westeuropäischer Sicht machte es angesichts der starken historischen, kulturellen und sogar ideologischen Bindungen (vor allem in den Ländern mit einst mächtigen kommunistischen Parteien) zwischen Westeuropa und Russland durchaus Sinn.
Im Laufe der Jahre hat Amerika diese innereuropäische Spaltung weiter vorangetrieben. Im Jahr 2003, am Vorabend des Irakkriegs, schmähte Donald Rumsfeld Frankreich und Deutschland als das "alte Europa", dem er die Vitalität des "neuen Europas" gegenüberstellte – die MOE-Staaten, die bald darauf in die Nato aufgenommen wurden. "Das Gravitationszentrum verlagert sich nach Osten", sagte er.
Mehrere MOE-Länder – aus naheliegenden Gründen vor allem Polen – hegten zudem historische Ressentiments gegen Deutschland und ernsthafte Bedenken gegen das Entstehen einer möglichen deutsch-russischen Achse. Aus diesem Grund wurde das Nord Stream-Projekt von den MOE-Staaten fast einstimmig abgelehnt. Die Integration des Ostens in die deutsche Wertschöpfungskette, welche als eine der Erfolgsgeschichten der EU gilt, verstärkte die ambivalente Beziehung der Region zu Deutschland: Während Mittelosteuropa davon profitierte, Teil der mächtigen deutschen "Montagekette" zu sein, schürte es gleichzeitig die Angst vor einem deutsch-europäischen Wirtschaftsimperialismus (in dieser Hinsicht waren viele MOE-Länder klug genug, nicht der Eurozone beizutreten).
Ein "Samtvorhang" der Kultur folgt auf den Eisernen Vorhang
Die stärksten Ost-West-Spaltungen entstanden jedoch entlang kultureller, nicht wirtschaftlicher oder geopolitischer Linien. Samuel Huntington war der erste, der 1993 vorhersah, dass der Eiserne Vorhang, der Europa ein halbes Jahrhundert lang politisch und ideologisch geteilt hatte, durch den "Samtvorhang" der Kultur ersetzt werden würde. Westeuropa, so schrieb er, war überwiegend katholisch, protestantisch und anglikanisch, Osteuropa hingegen überwiegend orthodox – was zur Herausbildung sehr unterschiedlicher sozialer Werte führte. Während sich in Westeuropa eine eher individualistische und säkulare Kultur entwickelt habe, die "liberale" Rechte und Freiheiten schätze, habe Osteuropa historisch gesehen eine eher kollektivistische und familienorientierte Kultur mit einer größeren Betonung von Familie, Gemeinschaft, sozialen Beziehungen und Religion. Nach dem Kalten Krieg strebten die MOE-Staaten eine stärkere politische und soziale Annäherung an den Westen an. In Fragen der Migration, Abtreibungs- oder Homosexuellenrechte sowie der nationalen Souveränität gab es jedoch weiterhin große Unterschiede.
In den letzten Jahren haben die aggressiven Versuche der EU, ihre integrativen und sozial progressiven Werte in ganz Mittel- und Osteuropa durchzusetzen, zu einer zunehmend selbstbewussten Gegenwehr geführt. Das Ergebnis ist eine Beziehungskrise zwischen der EU und den MOE-Staaten sowie eine verstärkte Koordinierung zwischen den MOE-Staaten zur Stärkung ihrer Autonomie – etwa im Rahmen der Visegrád-Gruppe und der Drei-Meere-Initiative.
Noch vor kurzem wurde die Hinwendung zu einer "illiberalen" oder "post-liberalen" Demokratie in verschiedenen MOE-Ländern – vor allem in Ungarn und Polen – als eine der größten Bedrohungen für die EU bezeichnet und diese Länder als die bêtes noires gebrandmarkt. Doch der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat alles geändert. Über Nacht wurden Polen, die Slowakei, Ungarn und Rumänien zur direkten Grenze der EU zu einem Kriegsgebiet. Der Einmarsch hat auch die geostrategische Bedeutung jener Länder erhöht, die an Russland oder das von Russland kontrollierte Weißrussland grenzen (Litauen, Lettland, Estland und Finnland), sowie der Länder, die die strategisch wichtige Nordseeroute überblicken (Norwegen und Schweden). Mit anderen Worten: Der Konflikt hat das geopolitische Kräfteverhältnis in Europa drastisch vom Westen in den Osten (und teilweise in den Norden) verschoben. Diese Staaten erfahren eine noch nie dagewesene internationale Aufmerksamkeit, finanzielle Unterstützung und vor allem Rüstungsgüter.
Polen als aufstrebende Regionalmacht
So hat sich beispielsweise die Zahl der US-Soldaten in Mittelosteuropa auf über 14.000 mehr als verdoppelt. Die meisten von ihnen – etwa 10.000 – befinden sich in Polen, das auch das Land ist, das am meisten von diesen Entwicklungen profitiert hat. Als größte und reichste Nation in Mittel- und Osteuropa (und sechstgrößte Volkswirtschaft in der EU) strebt es seit langem eine führende Rolle im zentralen und nordöstlichen Quadranten an, die ein Gegengewicht zu Russland und der deutsch-französischen Achse bilden kann. Der Konflikt hat diesem Projekt einen enormen Auftrieb gegeben.
Polen, das schon immer ein entschiedener Anhänger der USA und der Nato war, verfügte bereits vor dem Konflikt über eine der schlagkräftigsten Armeen in Europa. Im vergangenen Jahr wurde ein massiver Aufrüstungsplan eingeläutet, um eine 300.000 Mann starke Hightech-Armee aufzubauen, die das Land zur militärischen Supermacht Europas machen soll. Entscheidend ist, dass sich diese Strategie sowohl gegen Deutschland (und die EU) als auch gegen Russland richtet: Im vergangenen August verglich der polnische Außenminister Zbigniew Rau den "russischen Imperialismus" mit "imperialen Praktiken innerhalb der EU". Gemeint war insbesondere Deutschland.
In der Zwischenzeit hat Polen Millionen von ukrainischen Flüchtlingen aufgenommen und der Ukraine Hunderte von Panzern und anderen Waffensystemen (einschließlich einiger MiG-29-Kampfjets) zur Verfügung gestellt. Nach der Entscheidung der USA, Polen zu einem ständigen Stützpunkt für das V. Korps der US-Armee zu machen, das die Landstreitkräfte an der Ostflanke der USA befehligt, ist das Land faktisch zur logistischen Drehscheibe für die Kriegsanstrengungen der Nato in der Ukraine geworden. Infolgedessen wird auch die Selbstwahrnehmung Polens als aufstrebende Regionalmacht immer deutlicher. Letzten Monat deutete der polnische Botschafter in Frankreich an, dass Polen notfalls "in den Konflikt eintreten" könnte. Und es gibt in Polen sogar eine lebhafte Debatte darüber, ob es sich mit der Ukraine zu einem föderalen oder konföderalen Staat zusammenschließen sollte.
Polens Ambitionen decken sich exakt mit den amerikanischen Bestrebungen, das Kräfteverhältnis in Europa in Richtung des "neuen Europas" zu verschieben. Das erklärt, warum die USA das Land schnell und umfassend unterstützt haben, selbst wenn dies zu einer weiteren Spaltung des Kontinents führt. "Polen ist zu unserem wichtigsten Partner in Kontinentaleuropa geworden", sagte ein hochrangiger Beamter der US-Armee in Europa. Es ist bezeichnend, dass Biden nach seinem Besuch in der Ukraine im vergangenen Monat auf seiner Europareise nur einen weiteren Zwischenstopp einlegte: Warschau.
Gewinner und Verlierer
Ob dies zu einer langfristigen politischen Machtverschiebung nach Osten führen wird, hängt auch von der wirtschaftlichen Dynamik ab. Noch hat Westeuropa auf diesem Gebiet die Vormachtstellung inne, aber seine Volkswirtschaften, insbesondere die Deutschlands, haben durch den Konflikt und die damit verbundenen Sanktionen einen schweren Schlag erlitten. Vieles wird davon abhängen, ob die Remilitarisierung Europas in den kommenden Jahren zu einem bleibenden Faktor wird. In diesem Fall würden die mittel- und osteuropäischen sowie die baltischen Länder, die derzeit am meisten in ihre Verteidigungs- und Technologiesektoren investieren, auch wirtschaftlich profitieren und eine zentrale Rolle in der langfristigen Politik der EU im Bereich der Verteidigungsindustrie einnehmen.
Ein weiterer Faktor sind aber auch die Gräben, die der Konflikt innerhalb der MOE-Länder aufgerissen hat. Ungarn, früher Polens engster Verbündeter in der Visegrád-Gruppe, weigert sich, Waffen an die Ukraine zu liefern, und hat enge wirtschaftliche Beziehungen zu Moskau aufrechterhalten, einschließlich der fortgesetzten Einfuhr russischer Energie zu günstigen Bedingungen. Auch in der Frage der europäisch-amerikanischen Beziehungen hat sich Viktor Orbán ausdrücklich auf die Seite Macrons gestellt. "Gegenwärtig übernimmt die EU unkritisch die Position der USA, wobei die Interessen der USA einfach als europäische Interessen dargestellt werden", sagte Orbán im vergangenen Oktober 2022. "Genau deshalb ist Europa heute einer der Verlierer in diesem Krieg und die USA einer der Gewinner."
All dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die Ost-West-Kluft in Europa so groß ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr – und es auf absehbare Zeit auch bleiben wird. Schließlich hat Westeuropa jedes Interesse daran, seine Abhängigkeit von den USA und der Nato zu verringern, eine diplomatische Lösung des Konflikts zu erreichen und, wie Macron argumentierte, die Sicherheits- und Wirtschaftsbeziehungen zu Russland wieder zu normalisieren. Mittel- und Osteuropa hingegen hat allen Grund, sich vor Russland zu fürchten und engere Beziehungen zu den USA und der Nato zu pflegen.
Es ist folglich schwer vorstellbar, wie die Interessen und Bestrebungen der beiden Teilblöcke jemals miteinander in Einklang gebracht werden könnten, insbesondere im Kontext der EU-Politik. Wenn Länder wie Frankreich es mit der "strategischen Autonomie" ernst meinen, müssen sie wohl einen Alleingang wagen. Von Thomas Fazi, 05. Mai 2023, https://makroskop.eu/15-2023/muss-sich-europa-spalten/
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